Merlin - Wie alles begann
schaute hinauf und sah eine vertraute Gestalt auf einem
der Äste.
»Ich glaub’s nicht!«
»Ein Merlin«, sagte Rhia. »Ein junges Männchen. Und schau nur: Sein Flügel ist verletzt. Ein paar Federn fehlen ihm.« Sie
verdrehte den Hals nach Falkenart und pfiff gleichfalls gellend.
Der Vogel hob den Kopf und pfiff zurück. Diesmal trillerte er ein wenig und nahm ein paar tiefere Töne in seine Melodie auf.
Rhia zog die Augenbrauen hoch und drehte sich zu mir um. »Er erzählte mir – und er drückte sich nicht gerade höflich aus –, dass du ihm vor einiger Zeit das Leben gerettet hast.«
»Das hat er dir gesagt?«
»Stimmt es nicht?«
»Doch, doch, es stimmt. Ich habe ihn zusammengeflickt, nachdem er in einen Kampf geraten war. Aber wie hast du gelernt mit
Vögeln zu reden?«
Rhia zuckte die Schultern, als wäre die Antwort selbstverständlich. »Es ist nicht schwieriger als mit Bäumen zu reden.« Ein bisschen traurig fügte sie hinzu: »Das heißt, mit denen, die noch wach
sind. Aber mit wem hat der Merlin gekämpft?«
»Ich konnte gar nicht glauben, dass er so viel Schneid hat. Oder so dumm ist. Er hat sich in einen Kampf mit zwei Riesenratten
eingelassen, die mindestens dreimal so groß waren wie er.«
»Riesenratten?« Rhia erstarrte. »Wo? In der Druma?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber direkt am Rand. Bei einem kleinen Bach, der zwischen den Bäumen hervorkam.«
Bedenklich schaute Rhia zu dem Merlin hinauf, der gierig an einer spiraligen Frucht pickte. »Killerratten auf unserer Seite
des Flusses«, murmelte sie kopfschüttelnd. »Es ist ihnen verboten, den Drumawald zu betreten. Zum ersten Mal höre ich, dass
sie so nah gekommen sind. Dein Freund der Merlin hat vielleicht kein Benehmen, aber er hatte Recht, sie anzugreifen.«
»Dieser Vogel kämpft einfach gern, wenn du mich fragst. Genauso gut hätte er mich oder dich angreifen können. Er ist nicht
mein Freund.«
Wie zum Gegenbeweis flog der Merlin von der Frucht herunter und landete auf meiner linken Schulter.
Rhia lachte. »Sieht aus, als wäre er nicht deiner Meinung.« Nachdenklich betrachtete sie den Falken. »Weißt du, es ist möglich,
dass er einen Grund hatte, zu dir zu kommen.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Der einzige Grund ist das gleiche Unglück, das mich überall verfolgt.«
»Ich weiß nicht. Wie ein Unglücksbote kommt er mirnicht vor.« Sie pfiff eine freundliche kleine Melodie und streckte die Hand nach dem Merlin aus.
Kreischend schlug er mit einer seiner Klauen zu. Rhia zog die Hand rasch zurück, aber sie war schon aufgerissen.
»Autsch!« Finster leckte sie das Blut von der Wunde und pfiff dann einen scharfen Tadel.
Der Merlin pfiff im gleichen Ton zurück.
»Hör auf!«, brüllte ich und versuchte den Merlin von meiner Schulter zu stoßen, aber die Klauen hielten fest, durchlöcherten
meine Tunika und gruben sich in meine Haut.
»Sorg dafür, dass er mir nicht zu nahe kommt«, sagte Rhia. »Dieser Vogel bringt Verdruss.«
»Das hab ich dir ja gleich gesagt.«
»Gib nicht so an!« Sie stand auf. »Sieh zu, dass wir ihn loswerden.«
Ich sprang ebenfalls auf, den unerwünschten Gefährten immer noch auf der Schulter. »Kannst du mir nicht dabei helfen?«
»Er ist dein Freund.« Sie stolzierte davon, den Hügel hinunter.
Wieder versuchte ich den Merlin herunterzunehmen. Doch er gab nicht nach. Ein Auge starr auf mich gerichtet pfiff er wütend,
als drohte er mein Ohr abzureißen, wenn ich ihn nicht gewähren ließ.
Stöhnend vor Ärger lief ich Rhia hinterher, die gerade im Wald verschwand. Der Vogel flatterte mit den Flügeln und klammerte
sich an meine Schulter. Als ich Rhia schließlich einholte, saß sie auf einem niedrigen rechteckigen Stein und leckte ihre
Wunde.
»Meine Hand kannst du wohl nicht verarzten wie den Flügel deines Freundes.«
»Er ist nicht mein Freund!« Ich schüttelte die linke Schulter, doch der Merlin ließ nicht los und sah mich frostig an. »Siehst
du das nicht? Er ist eher mein Herr und ich bin sein Sklave.« Ich erwiderte wütend seinen Blick. »Ich kann ihn nicht zum Fortfliegen
zwingen.«
Rhia bekam Mitleid. »Entschuldige. Es ist nur, weil meine Hand so wehtut.«
»Lass sehen.« Ich griff nach ihrer Hand und untersuchte den tiefen Riss. Er blutete immer noch. Rasch griff ich in meinen
Beutel und streute ein bisschen Kräuterpulver auf die offene Wunde. Von einem nahen Busch riss ich ein breites Blatt und legte
es darauf,
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