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Merlin - Wie alles begann

Merlin - Wie alles begann

Titel: Merlin - Wie alles begann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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der Merlin seine Klauen tiefer in mein Fleisch und kreischte wütend und so laut,
     dass mein Ohr ebenso schmerzte wie meine Schulter. Die Wanderung wurde zur Qual.
    Einmal schätzte ich die Stellung eines Asts falsch ein und lief direkt dagegen. Er stach in eines meiner blinden Augen. Ich
     heulte auf vor Schmerz, aber Rhia war zu weit voraus, um es zu hören. Als ich dann versuchte mein Gleichgewicht wieder zu
     finden, übersah ich einen Tierbau, trat hinein und verstauchte mir den Knöchel.
    Ich fiel auf einen liegenden Stamm, mein Auge brannte, mein Knöchel schmerzte. Ich senkte den Kopf auf die Knie und war darauf
     vorbereitet, hier, wenn nötig, die Nacht zu verbringen.
    Zu meiner Überraschung flog der Merlin endlich auf. Er stürzte sich auf eine Maus, zerbiss ihr den Hals und trug sie in die
     Luft. Er landete neben mir auf dem Stamm und widmete sich seiner Mahlzeit. Die Maus tatmir Leid, doch dankbar rieb ich meine lädierte Schulter. Aber meine Erleichterung war gedämpft. Bestimmt würde der Vogel,
     der mich noch nicht mal beim Fressen aus den Augen ließ, bald auf seinen Lieblingsplatz zurückkehren. Warum musste er sich
     von allen Möglichkeiten in diesem großen Wald ausgerechnet meine arme Schulter aussuchen?
    »Emrys!«
    »Hier«, rief ich kläglich. Selbst Rhias Stimme hob meine Laune nicht, ich hatte keine große Lust, ihr zu sagen, dass ich nicht
     gut genug sah, um heute Nacht noch weiterzugehen.
    Ich hörte ein Rascheln in den Zweigen, dann trat sie aus der Dunkelheit. Sie war nicht allein. Neben ihr stand eine schmale
     Gestalt, dünn wie ein junger Baum, ihr langes Gesicht blieb im Schatten verborgen. Ich war mir nicht ganz sicher, aber sie
     schien einen starken Duft, süß wie von Apfelblüten im Frühling, auszuströmen.
    Ich stand auf und ging ihnen entgegen. Mein Knöchel tat nicht mehr ganz so weh, aber ich hinkte immer noch unsicher. Mit dem
     Beginn der Nacht ließ meine Sehkraft jede Minute weiter nach.
    Rhia deutete auf ihre dünne Gefährtin. »Das ist Cwen, meine älteste Freundin. Sie hat sich um mich gekümmert, als ich klein
     war.«
    »Ssso klein, dasss du noch nicht sssprechen und nicht allein esssen konntessst«, flüsterte Cwen. Ihre Stimme klang wie das
     Rascheln des Windes auf einer dürren Wiese. Wehmütig fügte sie hinzu: »Damals warssst du ssso klein, wie ich jetzt alt bin.«
     Sie hob den mageren, knotigen Arm und deutete auf mich. »Und wer issst dass?«
    In diesem Moment war ein betäubendes Pfeifen und Flügelschlagen über uns zu hören, gefolgt von Cwens Schrei. Rhia schlug nach
     etwas und zog dann ihre Freundin weg. Ich brüllte auf, als scharfe Klauen wieder meine linke Schulter packten.
    »Achchch!«, zischte Cwen und schaute den Merlin böse an. »Diesssesss Biessst geht auf mich losss!«
    Wütend pfiff Rhia den Vogel an. Doch er legte nur den Kopf schief und würdigte sie noch nicht einmal einer Antwort.
    Ungehalten sagte Rhia zu mir: »Dieser Vogel bringt Verdruss! Nichts als Verdruss!«
    Ich schaute auf meine Schulter und nickte düster. »Wenn ich nur wüsste, wie ich ihn loswerde.«
    »Ssspießßß ihn auf«, schlug Cwen aus sicherer Entfernung vor. »Reisss ihm die Federn ausss!«
    Der Merlin sträubte die spitzen Flügelfedern und sie verstummte.
    Rhia kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Dieser Vogel kommt mir wie ein Schatten vor, so, wie er an dir klebt.«
    »Eher wie ein Fluch«, murrte ich.
    »Lass mich ausreden. Gibt es irgendeine Möglichkeit, und sei sie noch so klein, dass du ihn zähmen kannst?«
    »Bist du verrückt?«
    »Ich meine es ernst.«
    »Aber warum sollte ich ihn zähmen wollen?«
    »Wenn du ihn kennen lernst, wenigstens ein bisschen, bekommst du vielleicht heraus, was er wirklich will; und dann könntest
     du eine Möglichkeit finden, ihn loszuwerden.«
    »Unsssinn«, spottete Cwen.
    Inzwischen war es dunkel geworden und auch ich hatte nicht viel Hoffnung. »Es wird nicht gehen.«
    »Hast du einen besseren Vorschlag?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich versuchen soll ihn zu zähmen – und ich glaube einen Drachen zu zähmen wäre leichter   –, dann sollte ich ihm zuerst einen Namen geben.«
    »Stimmt. Aber das ist nicht einfach. Der Name muss passen.«
    Ich stöhnte. »Nichts leichter als das. Du hast es selbst gesagt. Der richtige Name für ihn ist Verdruss. Nichts als Verdruss.«
    »Gut. Jetzt kannst du mit dem Zähmen anfangen.«
    Kleinmütig schaute ich die dunkle Gestalt auf meiner Schulter an.
    »Komm schon.«

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