Merlin - Wie alles begann
sonst?«
»Meine Bilder machen nicht die Sterne, sondern der Raum
zwischen
den Sternen. Die dunklen Stellen. Die offenen Stellen, wo deine Gedanken unbegrenzt reisen können.«
Von diesem Moment an konnte ich den Himmel nicht mehr sehen wie zuvor. Und das Mädchen neben mir auch nicht. »Erzähl mir mehr.
Von dem, was du dort oben siehst.«
Rhia warf die braunen Locken zurück. Mit melodischer Stimme erklärte sie einige der seltsamen Wunder am Himmel von Fincayra.
Wie das breite Sternenband über der Mitte des Nachthimmels in Wahrheit ein Saum zwischen den beiden Hälften der Zeit sei,
von denen die eine Hälfte immer beginne, die andere Hälfte immer ende. Wie die längsten dunklen Flecken in Wirklichkeit als
Flüsse der Götter diese Welt mit anderen verbänden. Wie der kreisende Ring der Sterne eigentlich ein großes Rad sei, dessen
endlose Umdrehungen das Leben in den Tod drehten, den Tod ins Leben.
Spät in der Nacht zeichneten wir Bilder in den Himmel und tauschten Geschichten aus. Als wir uns endlich zur Ruhe legten,
schliefen wir tief. Und als warme Sonnenstrahlen uns weckten, wussten wir, dass wir diesen Ort nicht verlassen wollten. Noch
nicht.
Also blieben wir noch einen Tag und eine Nacht auf dem freigebigen Hügel, wo wir das Obst und unsere Gespräche genossen. Obwohl
ich mich hütete über meine verborgensten Gefühle zu reden, entdeckte ich immer wieder, dass Rhia auf irritierende Weise meine
Gedanken lesen konnte, als wären es ihre eigenen.
Wir saßen unter dem fruchtigen Dach und aßen ein herzhaftes Frühstück aus würzigen Orangenscheiben (für mich) und süßen roten
Beeren (für sie). Als wir uns zum Schluss eine der spiraligen Früchte teilten, stellte mir Rhia eine Frage.
»Diese Frau, die sagte, sie sei deine Mutter – wie war sie?«
Ich sah sie überrascht an. »Sie war groß, mit sehr blauen . . .«
»Nein, nein, nein. Ich will nicht wissen, wie sie aussah. Wie
war
sie?«
Einen Augenblick überlegte ich. »Sie war freundlich zu mir. Freundlicher, als ich es verdiente. Jedenfalls die meiste Zeit.
Voller Glauben – an ihren Gott und an mich. Und still. Zu still. Außer wenn sie Geschichten erzählte. Sie kannte viele Geschichten,
mehr als ich noch weiß.«
Rhia musterte eine Beere und warf sie sich dann in den Mund. »Bestimmt hatte sie die Geschichten aus diesem Zimmer voller
Bücher.«
»Ja.«
»Hast du dich anders gefühlt, wenn sie bei dir war, obwohl sie nicht deine richtige Mutter war? Ein bisschen weniger einsam?
Ein bisschen . . . sicherer?«
Ich schluckte. »Ich glaube schon. Warum willst du so viel über sie wissen?«
Ihr Gesicht, sonst immer zum Lachen bereit, wurde ernst. »Ich überlege mir, wie eine Mutter, eine richtige Mutter, sein würde.«
Ich schaute zu Boden. »Ich wollte, ich wüsste es.«
Rhia nickte. Sie fuhr mit der Hand einen herabhängenden Zweig voller Früchte entlang, schien aber durch ihn hindurch an einen
anderen Ort oder in eine weit entfernte Zeit zu schauen.
»Du erinnerst dich also nicht an deine Mutter?«
»Ich war noch so klein, als ich sie verlor. Ich erinnere mich nur an Gefühle. Sicher sein. Und warm. Und . . . gehalten werden.
Ich weiß noch nicht einmal genau, ob ich mich wirklich daran erinnere. Vielleicht sehne ich mich nur danach.«
»Und dein Vater? Geschwister?«
»Ich habe sie verloren. Alle.« Sie streckte die Arme nach den Ästen über sich aus. »Aber ich habe die Druma gefunden. Das
ist jetzt meine Familie. Und auch ohne richtige Mutter habe ich jemanden, der mich beschützt. Und mich hält. Sie ist fast
meine Mutter.«
»Wer ist das?«
Rhia lächelte. »Ein Baum. Ein Baum namens Arbassa.«
Ich stellte mir vor, wie sie in den Ästen eines großen, starken Baumes saß. Und ich lächelte auch.
Dann dachte ich an Branwen, meine Beinah-Mutter, und spürte ein seltsam warmes Gefühl in der Brust. Siewar so fern und doch manchmal so nah. Ich dachte an ihre Geschichten, ihre Heilkunst, ihre besorgten Augen. Ich wünschte mir,
sie wäre bereit gewesen mir mehr anzuvertrauen – über ihre eigenen Kämpfe wie über meine geheimnisvolle Vergangenheit. Ich
hoffte sie eines Tages wieder zu sehen, obwohl ich wusste, dass es nicht dazu kommen würde. Zögernd sprach ich ein stilles
Gebet zu dem Gott, zu dem sie so oft gebetet hatte, ein Gebet, das ihr den Frieden wünschte, nach dem sie sich so gesehnt
hatte.
Plötzlich ertönte ein durchdringender Pfiff über meinem Kopf. Ich
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