Merlins Drache II - Die Große Aufgabe: Roman
sie fort: »Verstehst du nicht, warum ich dich so oft verspottet habe? Warum ich dich gedemütigt habe, so oft ich konnte?«
Krystallus schwieg. Er schaute ihr nur wie bisher in die Augen.
»Ich wollte dich damit drängen, du selbst zu sein! Aus dem Schatten deines Vaters zu treten.«
Nach einer langen Pause fügte sie flüsternd hinzu: »Du hast damit angefangen. Und jetzt … wirst du der größte Entdecker sein, den Avalon je gesehen hat.« Sie grinste. »Außer mir natürlich.«
»Natürlich.« Er grinste ebenfalls. »Aber der Kompass …«
»… gehört dir. Du hast mir das Leben gerettet – und außerdem möchte ich, dass du ihn hast.« Ihre Augen funkelten wissend. »Du wirst ihn bestimmt immer wieder gebrauchen können.«
Krystallus schluckte. Er wollte hinübergehen und sie wieder küssen, aber er widerstand dem Impuls und nahm behutsam den Kompass vom Regal. Er war wie eine Glaskugel in einem Lederriemen geformt. Innerhalb der Kugel waren, von haardünnen Drähten gehalten, zwei Silberpfeile. Als Krystallus die Kugel leicht drehte, hielt er den Atem an. Denn er hatte gerade erkannt, was dieses Instrument wirklich konnte.
»Ein Pfeil zeigt nach Westen wie bei jedem Kompass«, stellte er fest. »Zum Herzen von El Urien, der ersten Heimat der Elfen.« Er schaute zu ihr hinüber. »Passend.«
Dann fuhr er mit Blick auf die Kugel fort: »Aber der andere Pfeil, der zusätzliche – der dreht sich auf einer vertikalen Achse. Er deutet also immer
sternwärts
.«
Serella nickte. »Wo du auch bist – unter den Wurzelreichen, im Stamm des großen Baums oder irgendwo sonst –, kannst du also immer deinen Weg finden.«
Sein Herz war voller Dankbarkeit, doch er konnte keine Worte finden.
»Jetzt«, sagte sie, »kannst du der erste Entdecker sein, der bis zu den Sternen steigt.« Mit spitzbübischem Funkeln fuhr sie fort: »Falls ich nicht vorher hinkomme.«
»Ich nehme die Herausforderung an.« Ruhiger sagte er: »Ebenso dein Geschenk.«
»Gut. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht. Du bist mein … Lieblingsrivale.«
Das erinnerte Krystallus daran, wie er sie in Schattenwurzel gefunden hatte, und er wurde plötzlich ernst. »Nach Lastrael solltest du nicht zurückgehen. Dort stimmt etwas nicht. Was der Ort dir und den Elfen angetan hat – so etwas habe ich noch nie gesehen.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde düster. »Ich weiß. Etwas hat uns ganz plötzlich angegriffen. Die Oberheilerin hat mir gesagt, sie glaube, dass es eine Art Seuche ist –
Dunkeltod
hat sie es genannt.«
»Dunkeltod?«
»Ja. Aber wenn das stimmt, stellt es mehr Fragen, als es beantwortet. Wie verbreitet sich diese Seuche? Wer wird davon befallen – nur Elfen oder jedes Geschöpf? Wie kann man das verhindern? Ich muss zurück und es herausfinden.«
»Nein«, bat er und hob den Arm. »Riskier das nicht. Geh nicht dorthin zurück.«
»Warum?«, schoss sie spielerisch zurück. »Damitdu alle Wunder dieses Reichs selbst entdecken kannst?«
»Nein«, antwortete er sanft. »Damit niemand meiner« – er hielt inne und wählte mit Bedacht seine Worte – »Lieblingsrivalin etwas antun kann.«
Sie strahlte ihn an. »Gut, ich gehe nicht. Das heißt, bis ich es mir anders überlege.«
»Das Recht jeder Königin.« Er verbeugte sich spöttisch. »Aber zuerst …«
Stiefelschritte, mit jeder Sekunde lauter, unterbrachen ihn. Sie stapften die Treppe herauf, die zur Turmspitze führte.
»Meine Wachen.« Serella seufzte. »Sie kommen, weil sie mir melden wollen, dass du geflohen bist.«
»Sie werden sich nicht freuen, wenn sie mich hier bei dir finden.« Er schaute hinüber zum Bernstein, dessen goldene Farbe sich rasch verdunkelte. »Sie könnten denken, ich bin hier, um dich zu ermorden.«
»Oder mir einen Kuss zu rauben.«
Krystallus grinste fast, doch das Stapfen wurde lauter. Jetzt waren die Wachen nur noch Sekunden entfernt. Er wollte zum Balkon, dann hielt er inne und schaute zu ihr zurück. »Ich bin froh, dass ich dich nicht getötet habe.«
Flüsternd erwiderte sie: »Ich auch.«
Krystallus rannte zur Tür und kletterte über das Balkongeländer, als drei bewaffnete Wachen in das Zimmer der Königin stürmten. Obwohl er nicht alle ihre wirren, atemlosen Worte hören konnte, mussteer in sich hineinlachen, als er Serellas strenge Zurechtweisung verstand: »Ihr habt
was
? Ihr habt ihn fliehen lassen?«
Leise kletterte er die Turmwand hinunter, wobei er die Zehen in die Spalten zwischen den Steinen drückte. Der Kompass,
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