MERS
Wendeltreppe in etwas auf, das ein außen liegendes Türmchen sein mußte. Wir stiegen stetig empor, die Äbtissin voran, deren rotgeäderte Füße in den Sandalen von mir aus gesehen in Augenhöhe unter dem Gewand herausragten. In regelmäßigen Abständen kamen wir an schmalen Fenstern vorüber, die jetzt verglast waren und einen noch weiteren Ausblick auf die Klippen und das in der Ferne liegende Festland boten. Im Türmchen war es kalt, und es roch nach Spinnen.
Meine Begleiterin atmete angestrengter. Ich hoffte, daß sie diesen Aufstieg oftmals unternahm, am besten täglich, so daß ihr Herz an die Anstrengungen gewöhnt war. Die Stufen führten immer weiter in die Höhe. Ich wünschte, ich hätte sie gezählt. Ich hatte keine Ahnung, wie weit wir gekommen waren, aber mein eigenes Herz klopfte weitaus heftiger, als mir lieb gewesen wäre.
In einem dunklen Abschnitt des Turms blieb die Äbtissin stehen und hantierte längere Zeit herum, und dann öffnete sich eine Dachluke über mir und überflutete uns mit Licht und kalter, heller Luft. Sie ging hinauf, und ich folgte ihr hinaus auf das flache Bleidach des Türmchens, das von steinernen Zinnen umrandet war. Der runde Bereich hatte etwa einen Durchmesser von fünf Metern. Wir waren unglaublich hoch über der Insel. Als ich mich über das Steinwerk hinausbeugte und nach unten sah, hätte ich fliegen können. Ich hätte in einem Ballon sein können, der hoch über der Insel dahinfuhr, weit über den steilen, kupfergrünen Dächern und Kaminen des Klosters.
Die Äbtissin lehnte sich neben mir an. Beide waren wir, jäh und sehr machtvoll, Frauen. Zwei Frauen zusammen. Die Luft, ungewöhnlich für diese Höhe, war still. Die Äbtissin nahm mich beim Arm und schritt den vollen Kreis der Zinnen ab. Dabei sprach sie kein Wort und blickte stets nach draußen. Ich sah noch mehr Ozean, noch mehr Klippen, noch mehr Städte, noch mehr Berge, dann konnte es mein Bewußtsein umfassen. Wir trafen wieder bei unserem Ausgangspunkt ein.
»Ich habe Sie hierhergebracht«, sagte sie, »damit Sie schauen und horchen. Aber insbesondere horchen. Und wenn Sie gehorcht haben, werde ich Ihnen sagen, was Sie hören können.«
Ihre Augen glänzten. Unter der unerkennbaren Kuppel ihrer Gedanken strahlte ihr großes, altes, häßliches Gesicht. Ich gehorchte ihr. Ich schloß die Augen und lauschte. Weite Leere. Nichts rührte sich. Kein Vogel schrie. Kein Laut stieg von der Erde unten auf. Kein Laut. Nur das Blut, das in meinen Ohren sang.
Ich öffnete die Augen. »Sie meinen die Stille?« Ich verstand sie nicht. »Sollte ich sie hören?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie hören Frieden, meine Liebe.« Ihre Stimme zitterte. »Frieden. Zum erstenmal im Leben der Menschheit ist auf diesem Planeten Frieden. Es gibt keine Kriege. Keine Kriege, nirgendwo auf dieser Erde.«
»Keine Kriege?« Ich verstand noch immer nicht. »Sie meinen das wörtlich?«
Sie lächelte. »O ja. Keine Kriege. Ganz wörtlich.«
Ich blickte an ihr vorüber, wieder hinaus auf die Meere und Berge. Was sagte sie da?
»Die Nachricht ist gestern eingetroffen.« Sie war jetzt ganz sachlich, blies sich in die knochigen Hände, um sie zu wärmen. »Unsere Kirche hat die weltweite Lage überwacht. Gestern erreichte man Übereinstimmung im letzten bekannten organisierten bewaffneten Konflikt – ein Streit um Wasserrechte in Zentralafrika. Mit der Unterzeichnung dieses Abkommens ist alles offiziell sanktionierte Blutvergießen in der Welt erloschen. Die Stille, die sie hören, ist die Stille des Friedens. Keine Schlachten, keine Verwundungen, kein Betrauern toter Helden. Frieden.«
Mir standen Tränen in den Augen. Aber eine ungläubige Stimme fragte: warum kein Medienereignis? Das Ende des Kriegs, und keine Kameras, Mikrofone, Reporter?
Indirekt gab mir die alte Frau Antwort. »Im vierzigsten Jahr des Bevölkerungsrückgangs«, sagte sie, »sind uns noch nicht die Männer ausgegangen, die Kriege befehlen. Uns sind die Frauen ausgegangen, die in ihnen kämpfen sollen.«
Ich nickte. Eine Entwicklung, die Männer fürchten würden, daher keine Forschung, die sie herbeiführen würde. Männer befahlen nicht bloß noch immer Kriege, sie befahlen letzten Endes vieles dessen, was wir taten. Deshalb kein Medienspektakel.
Ich wandte mich ab. Hart? War ich hart? Ich blickte über die zerfressenen Steine der Zinnen hinaus, horchte in die Stille hinein, horchte auf den Frieden. Ich spürte Freiheit. Es war, als ob eine
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