MERS
gezogen, ihr Selbstachtung verliehen. Sie zu besuchen war ein Vergnügen.
Sie war ebenfalls ein wenig schwachsinnig. Kein Alzheimer-Schwachsinn, mit achtundfünfzig, sondern ein schwachsinniger Schwachsinn.
Wir umarmten einander. »Harriet – ich habe dir soviel zu erzählen. Und wie geht’s der kleinen Anna? Fängt bald mit der Schule an, schätze ich. Meine Göttin, wie sie wachsen!«
Bei jedem Treffen brachte ich sie auf den neuesten Stand der Dinge, aber sie glitt immer wieder zurück. Die Welt draußen hatte an jenem Tag für sie angehalten, da sie ihrer für Jesus und Gott die Mutter entsagt hatte. Psycho-Engineering hätte das Problem vielleicht gelöst – das war das Gebiet meines Nachbarn Peter Simpson –, aber die Ärztin des Klosters sah wenig Vorteile darin, und ich stimmte mit ihr überein. Mama brauchte die Loslösung. Da sie so lange das Gefühl gehabt hatte, im Fahrersitz der Welt zu sitzen, konnte sie vielleicht die Vorstellung nicht ertragen, daß die Welt ohne sie weiterfuhr.
»Und Mark – wie geht’s ihm? Hat er für euch eine angemessene Wohnung finden können?«
Bei ihrem letzten Besuch hatten wir im Appartement gewohnt. Sie hielt es nie für ›angemessen‹, sie, die ihre Kinder im eigenen Haus hatte großziehen können.
»Mark geht’s gut, Mutter. Er schickt dir liebe Grüße.« Wir ließen uns am Tisch nieder und hielt darüber hinweg Händchen. »Wir haben jetzt ein großes Haus, Mama, mit Garten und Garage. Und eine nette französische Studentin, die uns bei der Hausarbeit hilft.«
Ich schindete um ihrer willen Eindruck, nicht wegen mir. Das tat ich bei jedem Besuch, und sie war stets hocherfreut.
»Ein Au-Pair-Mädchen, Harri? Bist du sicher, daß das weise ist? Mark ist, wie ich weiß, nicht wie andere Männer, aber er ist nur ein Mann.«
Ich entgegnete, wie stets, daß ich Mark völlig vertraute und daß er, falls er fremdgehen wollte, dazu nicht Yvette benötigte – denn aufgrund von AIDS und des Bevölkerungsrückgangs kam in der Stadt inzwischen auf hundert Frauen ein Mann.
»Hab ich’s nicht gewußt, Liebes. Heutzutage geht es bei den Videos für die Bibliothek anscheinend nur noch um Sex. Ich frage die Äbtissin, wenn ich irgendwelche Zweifel habe. Sie ist eine vernünftige Frau.«
Wie stets sagte ich ihr nicht, daß ich Mark einmal gewarnt hatte. Ich hatte ihm gedroht, daß ich ihn wohl, als Geste der weiblichen Solidarität, ausleihen müsse, wenn er seine Pflicht bei den Spermenbanken nicht erfüllte. Natürlich tat er es, so daß meine Solidarität niemals auf die Probe gestellt wurde.
»Anna ist jetzt schon eine Weile in der Schule, Mama. Sie ist fünfzehn und so schön, daß du’s nicht glauben würdest.«
»Unsinn. Mütter halten ihre Töchter stets für schön.« Sie blickte mich scharf an. »Das ist nicht immer ein Rezept zum Glücklichsein, Harri.«
Das war neu und erheiternd. Es deutete an, daß ich für sie jetzt so weit im mittleren Alter stand, daß sie sich vorstellen konnte, ich sei eifersüchtig auf meine schöne Tochter. Ich ging rasch darüber hinweg.
»Wegen Anna bin ich hergekommen, Mama. Ich möchte sie eine Zeit lang hier im Kloster unterbringen. Gibt’s da irgendwelche Haken? Bezahlung, zum Beispiel – akzeptiert die Gemeinschaft Spenden, oder wäre die Äbtissin brüskiert?«
»Anna? Hier unten? Wann soll sie kommen?«
Ich räusperte mich. »Morgen«, gab ich zu.
»Mitten im Schuljahr?«
»Wenn das für die Äbtissin in Ordnung ist.«
»Und für wie lange?«
»Weiß ich nicht.«
Ich hob entschuldigend die Schultern. Wenn ich es erklären müßte, täte ich es, und zwar wahrheitsgemäß, aber es wäre nicht einfach, und es wäre für Mama nicht besser, wenn sie es wüßte.
Offensichtlich war Mama auf irgendeiner wichtigen Ebene nicht schwachsinnig und verstand das, denn sie stellte keine Fragen.
»Es kommt vor«, sagte sie. »Eltern, die plötzlich ins Ausland müssen… Bei den schulischen Dingen kenne ich mich nicht aus, aber die Gemeinschaft verweigert nie eine Spende.« Sie lehnte sich zu mir herüber und senkte die Stimme. »Sag ihr, daß Anna hier Zuflucht suchen muß. Bei so etwas kann sie sich nie verweigern.«
Sie lachte verlegen und blickte sich um, als ob sie das Gesprächszimmer für verwanzt hielte. Ich bezweifelte das. An einem Ort wie diesem hier war Vertrauen wichtig.
»Ich fange wohl lieber nicht mit einer Lüge an, Mama. Ich…«
»Natürlich nicht, meine Liebe.« Sie tätschelte mir die behandschuhte
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