MERS
schlimmsten in ihrem Leben. Liese hatte ihr dabei geholfen, die Sachen zum wartenden Taxi runterzutragen.
»Natürlich mußt du gehen.« Fünf Jahre gemeinsamen Familienlebens einreißen, Bücher, Schallplatten, Topfpflanzen, Annas Spielsachen mitnehmen. »Natürlich mußt du gehen.«
Sie standen auf dem leeren Balkon. Überwältigt von glücklichen Erinnerungen biß Harriet sich auf die Fingerknöchel. »Du wirst uns besuchen kommen? Annie wird dich vermissen. Du wirst uns besuchen kommen?«
Lieses Gesicht war bis auf die Knochen eingefallen. »Natürlich werde ich dich besuchen kommen.«
Anna vermißte sie tatsächlich, und sie kam tatsächlich. Zunächst waren die Besuche wie ein Gang durchs Minenfeld gewesen. Anna ging jetzt nach der Schule zu einer Tagesmutter, bis Harriet von ihrer Arbeit am Institut nach Hause kam. Die Tagesmutter war eine jener freundlichen, dummen Frauen, denen Harriet und Liese in der Vergangenheit ihre Tochter niemals anvertraut hätten. Mark hatte unregelmäßige Arbeitszeiten und war nicht immer allerbester Stimmung. Die Wohnung war klein. Harriet hatte Unikhem verlassen, stellte ein Team im staatlichen Forschungsinstitut zusammen und brachte Artikel zum Lesen mit nach Hause, was manchmal bedeutete, daß Anna mehr vor dem Fernseher hockte, als ihr guttat. Lieses Besuche waren wie ein Gang durchs Minenfeld aus zu vermeidenden Themen und unausgesprochener Kritik. Am schlimmsten von allem war ihre Art, stets nette Worte zu finden.
Liese hatte wieder eine Vollzeitstelle in der Familienfürsorge angenommen und bekam nach und nach das eigene Leben in den Griff. Harriet und Mark heirateten und fühlten sich tapfer genug, die Verantwortung für eine größere Wohnung und eine bei ihnen wohnende Hilfe zu übernehmen. Der Stress zwischen ihnen und Liese wurde geringer. Liese war noch immer Harriets beste Freundin, und die gewaltigen Anstrengungen, die ihre Freundschaft am Leben erhalten hatte, waren nicht mehr notwendig.
Liese wandte sich von den Schallplattenregalen ab, als Harriet das Teetablett hereintrug. »Wann genau geht dein Flugzeug?«
»Wir müssen um acht Uhr morgen früh am Flughafen sein.«
»Und ihr fliegt tatsächlich direkt nach Ankara?«
»Ich glaube schon. Der dortige Konsul sagt, es sei alles ruhig – die Kämpfe sind jetzt seit mehr als einer Woche vorüber.«
»Verrückte Frauen. Was glauben sie zu gewinnen?«
»Offensichtlich haben sie’s gewonnen.« Harriet schenkte zwei Tassen Tee ein. »Die Fundamentalisten sind out. Der Tschador ist für illegal erklärt worden.«
»Massaker gewinnen gar nichts, Harriet. Nicht auf lange Sicht gesehen. Die moslemisch orientierten Länder leiden bereits an einer fast chronischen Männerknappheit. Tausende Männer in Stücke zu hacken wird die Lage kaum verbessern.«
»Da spricht die typische nicht-moslemische Frau.« Harriet reichte Liese ihre Tasse. »Ich persönlich könnte mir vorstellen, daß es eine Menge hilft.«
»Wieder eine deiner Posen. Du bist die am wenigsten militante Frau, die ich kenne.«
»Das ist so, weil mir alles so in den Schoß gefallen ist. Deswegen mißbillige ich Militanz, nenne sie männlich und verwerflich.«
Sie bot Kekse an, und Liese nahm einen.
»Was sind dann Massaker«, fragte Liese, »wenn nicht männlich und verwerflich?«
»Dieses spezielle Massaker hat sich über tausend Jahre hinweg vorbereitet, und es war durch und durch weiblich… Auf jeden Fall ist es jetzt vorüber, und der Konsul sagt, die Türkei ist sicher. Wir lassen Armenien und Asserbeidschan außen vor, bis wir dort sind. Mit ein bißchen Glück können wir von beiden Ländern die Finger lassen. Wenn dieser alte Knabe das Zeug hat, das er, Michael Volkov zufolge, haben muß.«
»Er wird es haben. Er muß es haben. Darum nehme ich Anna zu mir – um die Sache der Wissenschaft voranzubringen. Hinter jeder erfolgreichen Frau steht eine erfolglose Frau.«
Es war so obenhin gesagt. Harriet sah sie an. Es war so obenhin gesagt, aber nein – hinter jeder erfolgreichen Frau stand eine Frau, die auf andere Art erfolgreich war. Daran glaubte Liese gewiß – wollte sie es jetzt gesagt bekommen? Harriet wurde die Entscheidung erspart, weil die Wohnungstür knallte und Anna im Wohnzimmer auftauchte. Acht Jahre alt, das dunkle Haar lang und wild, die Schultasche schwingend, wunderschön und kostbar.
»Tante Liese… Ich hab gewußt, daß du hier bist. Ich hab gewußt, daß du mich nicht vergißt.«
»Wegen dir bin ich nicht hier,
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