MERS
Kind. Ich bin wegen Elvis hier. Und du hast deiner Mutter nicht guten Tag gesagt.«
»Tag, Tag, Mama.«
»Tag, Tag, Annielein.« Wie angenehm war es, dachte Harriet, daß Liese sie daran erinnern mußte.
»Nur wegen Elvis, Tante Liese? Was ist mit mir?«
»Dann wollen wir dich doch mal ansehen. Steh gerade. Du bist nicht sehr groß, muß ich sagen. Wenn du versprichst, nicht zuviel zu essen, kann ich dich wohl irgendwo unterbringen.«
Liese hatte völlig recht – Harriet hatte Nerven, wenn sie Liese darum bat, eine Woche lang auf Anna und Elvis aufzupassen, während sie und Mark nach Erzurum in die östliche Türkei fuhren, um Dr. Aku Fateya zu suchen. Aber es war einzig und allein eine Dienstreise – laut Professor Volkov, der dort gewesen war und es wissen sollte, fuhr niemand zum Vergnügen nach Erzurum –, und Anna war hellauf begeistert, bei ihrer Tante bleiben zu können, und Elvis wurde nicht um seine Meinung gefragt. Liese könnte Anna jeden Tag zur Schule bringen und wieder abholen, und während der letzten drei Jahre war Lieses Schmerz abgeflaut, und es war insgesamt gesehen die ideale Situation. Auch wurde Liese dadurch zum Engel.
Bald darauf traf Mark ein. Er war drüben im Büro bei Science News gewesen und hatte seinen Schreibtisch aufgeräumt. Er schrieb an einem Artikel über die veränderten Erwartungen von Frauen an einen professionellen Arbeitsplatz und wollte sicherstellen, daß der Artikel nicht zu Tode redigiert wurde. Jetzt hatte er frei und flog nach Ankara und weiter nach Erzurum für eine Story, die er, wenn sie glückte, sehr lange Zeit nicht schreiben konnte. So lange Harriets nachfolgende Untersuchungen benötigten.
Er warf sich auf das Sofa, streckte die Hand nach der kalten Teekanne aus und stöhnte. Harriet sah und hörte es und blieb, wo sie war. Sie war selbst bis zum Mittag im Institut gewesen und hatte seither Annas Sachen gepackt. Liese bemerkte den toten Punkt, aber Anna zeigte ihr gerade einen Geschichtsaufsatz -›Leben in einem Wikingerdorf‹.
Mark verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Wie geht’s denn so, Liese?«
»Mir geht’s gut.« Sie blickte nicht von Annas Heft auf. »Und dir?«
»Munter. Weißt du… munter.« Er streckte die Beine. »Das ist wirklich außerordentlich nett von dir, Liese.«
»Nicht der Rede wert. Anna und ich werden uns eine schöne Zeit machen.«
Er warf Harriet einen fragenden Blick zu. Sie hob die Schultern. Das Gebrummel zwischen Anna und Liese ging weiter. Mark schloß die Augen. Abgesehen von freundlichen, ermunternden Bemerkungen beim Kommen und Gehen behauptete er, er fände es am besten, Liese Harriet zu überlassen. Es gäbe Nebentöne, sagte er zu Harriet, einer menage à trois. Andeutungen, sie würde seine Frau besser kennen als er. Er sei sich gewiß, daß Liese sich allergrößte Mühe gab, so etwas zu vermeiden (was bedeutete, daß er sich überhaupt nicht sicher war), aber sie lägen nichtsdestoweniger in der Luft.
Schließlich war es für Liese und Anna Zeit zu gehen. Harriet holte Elvis, Mark Elvis’ Körbchen, und er wurde hineingesteckt. Er protestierte und lenkte dadurch insgesamt von jeglichem Gefühl ab, das der Abschied nach sich gezogen hätte. Anna redete auf der ganzen Treppe und bis zum Taxi hinaus auf ihn ein, ohne etwas zu erreichen. Mark legte Annas Koffer in den Fond. Harriet beugte sich herab, küßte sie, und das Taxi fuhr davon. Ein bitterkalter Wind blies die Straße hinab. Harriet stand winkend auf dem Bürgersteig. Es war das erste Mal, daß sie und Anna für mehr als einige Stunden voneinander getrennt wären.
Mark legte ihr einen Arm um die Hüfte. »Annie ist jetzt groß«, sagte er. »Sie wird schon gut zurechtkommen. Wegen dir mache ich mir Sorgen.«
Harriet schmiegte sich an ihn. »Wir beide sind jetzt groß.«
Zusammen gingen wie wieder hinauf. In der Wohnung war es sehr still, und ihr Flugzeug ging erst am folgenden Morgen ab. Mark holte seinen Ordner mit den Unterlagen für ihre Reise.
»Hilf mir mit den Notizen, die mein Mitarbeiter im Büro für mich zusammengesucht hat«, sagte er, während er Papiere auf dem Küchentisch ausbreitete. »Das wird unsere letzte Gelegenheit sein, ehe das Chaos über uns hereinbricht.«
Harriet wischte sich unauffällig die Augen an einem Küchenhandtuch ab. Er wühlte in seinen Papieren und bemerkte es nicht.
»Sei nicht so nordeuropäisch, Mark. Das Chaos bricht bestimmt nicht über dich herein, sobald du die Donau überquert hast.«
Aber
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