MERS
zu verschaffen. Hatte er das nicht gemeint?
Er brachte den Stuhl zum Stillstand und versuchte es mit kitschigen Gründen. »Die Welt da draußen ist gewalttätig. Junge Mädchen sind sehr verletzlich.«
»Sie hören sich jede Minute mehr wie Sergeant Milhaus an.«
Ich stand wieder auf den Beinen. Gerade hatte ich einen jener Gedankensprünge erlebt, nach denen das Unmögliche jäh absurd einfach wird. Anna ins Kloster zu schaffen war absurd einfach. Das Schicksal, vermutlich ein unfreundliches, hatte seit Tagen versucht, mir zu helfen. Ich war einfach zu beschäftigt gewesen, als daß es mir aufgefallen wäre.
»Ich benötige Ihre Schutzhaft nicht, Marton. Anna benötigt Ihre Schutzhaft nicht. Und ich warne Sie, Marton, wenn Sie versuchen, die Sache mit Nachdruck voranzutreiben, sorgen Sie besser für ausgesprochen gute legale Absicherung. Wir sind keine dummen Bauern, Mark und ich. Und ich sage Ihnen noch etwas – es gibt keine dummen Bauern, die sind mit der Jahrtausendwende verschwunden. Als nächstes verschwinden dumme staatliche Angestellte. Guten Tag!«
Ich strebte zur Tür. Er wartete, bis ich sie erreicht hatte. Oswald Marton war ein Mann, der Schlachten zu verlieren wußte, jedoch Optionen auf den Krieg zurückbehielt. Er wartete, bis ich die Tür erreicht und sie geöffnet hatte.
»Viel Glück mit Natalya Volkov«, sagte er so leise, daß ich die Ohren spitzen mußte, um ihn zu verstehen – was ich, dreimal verfluchter Teufel, auch tat. »Wenn sie behauptet, sie habe uns das ganze Material gegeben, so fragen Sie sie doch, wie es uns hätte erreichen sollen. Wenn per Telefon, dann über welche Nummer. Unsere Nummer steht nicht im Verzeichnis. Versuchen Sie also die Nummer, die Sie von ihr erhalten.«
Ich schloß die Tür. Ich wußte nicht, worauf er hinauswollte, aber einer Sache war ich mir sicher – seine Absicht war nicht edel. Sie war nicht freundlich. Es war die Absicht eines Feindes.
Ein Bildschirm auf Branka Golbcheks Schreibtisch zeigte die Debatte im Parlament. Die Ministerin war aufgestanden, und Branka sah zu und machte sich Notizen. Die Ministerin war eine gutaussehende Frau, eine Händlerin von Natur aus, stets gut vorbereitet, erfolgreich in dem, was, worauf Mark hingewiesen hatte, noch immer hartnäckig eine Männerwelt war. In den wenigen Sekunden, da ich sie sah, während ich an Brankas Schreibtisch vorüberging, überlegte ich, welches Ereignis sie zu meiner Feindin gemacht hatte. Denn sie war Martons Göttin. Wie jesuitisch seine Anbetung jedoch auch sein mochte, wie spitzzüngig und vernünftig die Beziehung zu seiner Göttin jedoch auch sein mochte, sie war auf jeden Fall der Born all seiner Rechtschaffenheit. Wenn er mein Feind war, dann war sie es auch.
Ich nahm meine Jacke und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Das hallende Foyer erinnerte mich an meinen letzten Aufenthalt dort sowie an meinen Anruf bei Danno. Es sorgte dafür, daß ich innehielt, und verscheuchte die Gedanken an Marton, Natya und das Institut aus meinem Kopf; das traurige, vertraute Rätsel von Danno und mir, zwei Menschen, welche die Eltern gemeinsam hatten, das Zuhause, das Fernsehen, Weihnachten, die Schule, sechzehn Jahre gemeinsamen Heranwachsens, und jenen schrecklichen Kampf mit Brak. Das alles hatten sie gemeinsam, und dennoch blieb die Identität, die im Kopf meines Bruders verborgen lag, in seinem Herzen, unverstanden von der Identität, die in meinem Kopf und Herzen verborgen lag. So unverstanden, daß er schließlich monatelang aus meinen Gedanken herausfiel, kein Teil meiner Alltagssorgen war. Er existierte einfach nicht mehr, bis er von einer Telefonzelle und schlurfenden Schritten heraufbeschworen worden war. Ich blieb stehen und starrte vor mich hin. Wie konnte dies geschehen?
Leute rempelten mich an und murrten. Ich versperrte ausgetretene Lebenspfade über den weiten Marmorfußboden. Ich eilte hinaus, keuchte wegen der Kälte und winkte ein blaukariertes Taxi heran. Es war vier Uhr, und es dunkelte allmählich, und ich mußte ins Institut zurück, ehe ich nach Hause ging. Ich saß sehr gerade auf der abgewetzten Polsterung.
Papas Beerdigung hatte die Verwesung in Gang gesetzt. Und Mama. Natürlich Mama. Er dachte, ich stünde auf Mamas Seite. Vielleicht stimmte das auch. Der, der nicht gegen mich ist, ist für mich. Aber danach hatten wir gute Zeiten gehabt, warum also die Unterbrechung? Hatte ich etwas getan, das mir angelastet werden konnte?
Die Taxifahrt vom alten Stadtzentrum bis zum
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