Messertänzerin
stand einmal der prächtigste Palast, den man sich vorstellen kann. Die Brücken führten von allen Seiten zu großen Portalen. Lauter kleine Balkons und Türme hingen seitlich an den weißen Mauern, und auf dem Dach gab es einen exotischen Garten mit Pflanzen aus fremden Ländern.« Er deutete mit der Hand einen weiten Kreis an. »Rings um den Palast hatte man ein Labyrinth angelegt, mit hohen immergrünen Hecken, üppigen Blumen und mehrstufigen Springbrunnen.«
Divya sah Leasar ungläubig an.
»Nach dem Brand haben die Städter die Steine abgetragenund für ihren Hausbau benutzt«, fuhr er fort, »bevor das Betreten der Insel verboten wurde. Ich weiß, man kann sich so etwas Schönes an diesem Ort nicht mehr vorstellen. Alles zerstört in einer Nacht. Vielleicht haben wir Baar und Ur doch zu sehr verärgert. Es heißt, wir hätten sie mit dem Palastbau von der Insel vertrieben, hinaus ins Wilde Land. Dann haben sie sich ihren Besitz wiedergeholt.«
Tajan wandte sich abrupt ab und ging weiter, quer über den kargen Boden zur ehemaligen Westwand. Dort ragte tatsächlich noch ein trauriger Rest der Palastmauer auf, und gleich daneben gähnte ein tiefes Loch, an dessen Seite sich Grundmauern des Gebäudes noch abzeichneten. Auf den schwarzen Ziegeln war ein graues Viereck erkennbar. Divya vermutete, dass der Putz ziemlich genau vier Jahre alt war.
»Jidaho und ich haben schon dreimal die Insel abgesucht«, sagte Leasar ungehalten. »Und wir haben nichts gefunden.«
Tajan deutete auf den zugemauerten Gang.
»Was auch immer hier noch liegen mag, muss wohl hinter dieser Wand sein!«
Leasar trat vor. »Die können wir nicht aufstemmen, dafür bräuchten wir mehr Männer und schweres Werkzeug.«
Roc trat neben ihn und starrte in das dunkle Loch, aus dem lautes Rauschen zu hören war. »Unsere beste Chance liegt wohl dort unten. Vielleicht gibt es einen unterirdischen Zugang zu einer eingestürzten Stelle des Gangs.«
Divya sah, wie Tajan blass wurde. Hastig wandte er sein Gesicht ab, zog das Seil von seinem Rücken und legte es in Leasars Hände.
»Lasst mich langsam hinunter, damit ich Zeit habe, Halt zu suchen.«
Roc öffnete seinen Rucksack und holte eine Lampe heraus, die er entzündete und an einem zweiten Seil befestigte, das er von Divya erhielt. Dann ließ er das Licht ins Loch hinab.
Divya legte von hinten ihre Arme um Tajans Taille und zwang ihn so, sich zu ihr umzuwenden und ihr in die Augen zu sehen.
»Warum willst du da runtergehen?«, fragte sie.
»Ich kann am besten klettern«, erwiderte Tajan knapp.
Divya senkte die Stimme. »Du weißt, was du da unten finden wirst. Lass mich gehen!« Sie versuchte ihm mit ihren Blicken zu sagen, was sie vor Leasar und Roc nicht aussprechen konnte. Wie hätte sie Tajans Ängste, Tajans Seele vor den anderen entblößen können?
Er zuckte mit den Schultern, und Divya sah die Last, die auf ihnen lag.
»Ich werde allem, was mich dort unten erwartet, ins Auge sehen«, sagte er mit so rauer Stimme, dass Divya ihn festhalten wollte. Dicht an ihn gepresst drückte sie ihren Mund an sein Ohr und flüsterte: »Das warst nicht du! Das war Warkan!«
Er löste sich von ihr und fuhr ihr mit der Hand durchs Haar, das sie heute offen trug. Seine Finger verfingen sich leicht in ihren blonden Locken mit dem dunklen Haaransatz, und plötzlich hatte sie entsetzliche Angst, ihn heute – jetzt! – an dieses schwarze Loch zu verlieren. Die Vorstellung, dass dies seine letzte Berührung sein könnte, nachdem sie sich gerade erst gefunden hatten, raubte ihr den Atem. Aber sie wusste auch, dass sie ihn nicht aufhaltenkonnte. Tajan war Fluchten nicht gewöhnt, also musste er früher oder später seinen Erinnerungen entgegentreten.
Leasar nahm das Seil locker in die Hand und wies Roc an, hinter ihm das Ende zu sichern. Währenddessen schlang sich Tajan das Seil um die Hüfte und prüfte, ob er es gut halten konnte. Als er über die Kante glitt, begegneten sich Divyas und seine Blicke noch einmal, und sie spürte, wie ein Teil von ihr mit ihm in dem Loch verschwand.
Zunächst kam Tajan sehr schnell voran, seine Füße und Finger fanden genügend Halt. Aber unten wurde die Wand wohl zunehmend feuchter und glitschiger, und Divya konnte am Ton seiner Stimme hören, dass Tajan die Grenzen seiner Fähigkeiten erreichte. Und dann ging gar nichts mehr. Das Seil war zu kurz!
»Wir müssen zwei Seile zusammenbinden«, rief Leasar hinunter.
Tajan hatte das vorhin abgelehnt, weil er
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