Messertänzerin
Tränen ihre Sicht verschleierten. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Selbst wenn sie irgendwie hinuntergelangte, würde es keinen Weg zurück geben. Sie hatte kein Licht, um ihn zu suchen. Und dennoch … sie würde jeden Atemzug ihres Lebens damit verbringen, alle Möglichkeiten seines Todes in Gedanken durchzuspielen. Immer und immer wieder würde sie Tajan sterben sehen. Für sie gab es keinen Weg mehr nach oben. Ihre Welt war gerade in den Fluss gestürzt.
Divya ließ das Seil los und hielt sich mit aller Kraft in der lehmigen Wand fest. Langsam, Griff für Griff, kletterte sie – bis unter ihren Füßen nur noch Leere war. Dann schloss sie die Augen und ließ sich fallen.
Der Fluss war eiskalt und er riss Divya mit einer Wucht mit sich, die ihr die Luft nahm. Instinktiv schlug sie mit Armen und Beinen um sich, versuchte sich oben zu halten und kein Wasser zu schlucken, aber es war unmöglich. Sie kämpfte, soweit es ihr möglich war, aber immer wiederging sie unter, und schließlich verlor sie den Kampf, als sie einen Schwall Wasser in den Mund bekam und sich verschluckte. Sie spürte noch, dass ihre Kräfte schwanden. Sie gab nach. Dieser Fluss kämpfte um sie, härter als sie um ihr Leben, und er würde sie bekommen.
Im gleichen Moment schlug sie gegen eine Wand. Ihr Kopf und ihre rechte Schulter schmerzten, aber sie versuchte instinktiv Halt zu finden. Erstaunt bemerkte sie, dass die Strömung an dieser Stelle schwächer war. Der Lärm des Flusses verschwand nach rechts. Benommen zog sie sich hoch, aus dem Wasser heraus, und öffnete dann erst die Augen.
Sie hockte auf einem Stapel von Baumstämmen, Ästen und Gräsern, der sich an einer eigenartig schimmernden Wand aufgetürmt hatte, die den Fluss zu einer unnatürlich abrupten Biegung zwang. Alles, was das Wasser mit sich trug, lud es hier ab. Mit wackeligen Beinen kletterte Divya nach links, wo sie festen Boden entdeckte. Ein steinerner Strand, der sich ein Stück in die Höhle hineinzog! Divya ließ sich auf die Knie fallen und starrte das Hindernis an, das sich dem Fluss hier entgegenstellte. Es war nicht nur eine Wand, es waren vier, und sie alle waren fast durchsichtig. Nur dass sie von innen heraus leuchteten! Dahinter befand sich ein riesiger Raum, vier Mannshöhen hoch und mit rohen Regalen ausgestattet, auf denen Tausende von Büchern standen.
»Die verlorene Bibliothek!«, flüsterte Divya und war sich jetzt fast sicher, dass sie bereits tot sein musste. War dies ein unterirdischer Übergang ins Jenseits? War sie schon in der Geisterwelt?
»Divya«, flüsterte eine Stimme ganz in ihrer Nähe.
Sie schnellte herum, spürte plötzlich ihre Schmerzen und ihre Schwäche nicht mehr und lief auf ein Bündel zu, das auf dem Steinstrand lag. Als es sich aufsetzte, erkannte sie Tajan, der sich in einem ähnlichen Zustand befand wie sie. Er hatte sich am Bein verletzt, aber sonst schien es ihm gut zu gehen. Bis auf …
Kurz vor ihm blieb Divya stehen. Mit seinen Augen stimmte etwas nicht. Sie sahen in ihre Richtung, aber nicht genau. Sie machte einen leisen Schritt zur Seite – und er lächelte noch immer dorthin, wo sie eben gestanden hatte. Das durfte nicht sein! Sie bewegte die Hand vor seinem Gesicht, aber sein Blick folgte ihr nicht!
Auf einmal bemerkte sie einen Schatten, der sich aus der felsigen Rückwand des Strandes löste. Eine gebeugte Gestalt mit einem schwarzen Umhang und einer schwarzen Kapuze. In der Hand trug sie einen knorrigen Stab, der sie selbst überragte.
Divya fiel vor dem noch immer sitzenden Tajan auf die Knie, legte den Arm schützend um ihn und senkte den Blick.
»Lass ihn gehen!«, flehte sie das schwarze Wesen an. »Er ist nicht schuldig.«
»Was ist los?«, rief Tajan, sprang auf und zog ein Messer aus seinem Umhang. Sein Kopf bewegte sich schnell hin und her, als lauschte er auf einen Angreifer.
»Du kannst ihn nicht sehen, nicht wahr?«, fragte Divya verzweifelt. »Steck das Messer weg. Es ist Ur.«
Tajan warf die Waffe zu Boden und griff nach Divya, um ihr die Hände auf die Augen zu legen.
»Wie kannst du das wissen?«, fragte er zweifelnd. »Es ist stockdunkel.«
Divya unterdrückte die Tränen, seufzte und schwieg. War es jetzt noch wichtig, Tajan zu erklären, dass es hell genug war? Hell genug, um das Wesen erkennen zu können, das Leben nahm, wenn die Zeit gekommen war?
Feuer
»Ich bin nicht Ur«, widersprach das Wesen mit einer Stimme, die klang, als hätte es sie sehr lange nicht benutzt.
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