Messertänzerin
keinem Knoten sein Leben anvertrauen wollte. Jetzt erwies sich dieser Grundsatz der Sujim als Fehler. Aber Tajan war nicht bereit zurückzukommen.
»Es ist nicht mehr weit bis nach unten«, rief er herauf.
Divya vermutete eher, er wollte verhindern, dass sie beim zweiten Versuch an seiner Stelle kletterte.
»Komm zurück!«, schrie Divya in Panik an Leasar vorbei.
Aber Leasar zog bereits das leere Seil ein. Tajan hing vermutlich viele Meter unter ihnen an der nassen Wand, nur auf die Kraft von Fingern und Füßen angewiesen. Und auf sehr viel Glück.
Divya lauschte. Und wartete. Und bekam fast keine Luftmehr, weil sie den Atem anhielt, um kein Geräusch zu verpassen. In ihrer Angst rechnete sie jeden Augenblick mit dem Schlimmsten.
Als der schreckliche Schrei dann tatsächlich von unten heraufhallte, stürzte Divya auf die Knie. Ein Platschen und ein Gurgeln drangen an ihr Ohr, aber sehen konnte sie nichts, die Lampe hing weit oberhalb von Tajans Position, der Boden des Lochs mochte zwei, zwanzig oder hundert Meter darunter liegen.
»Zieht das Seil mit der Lampe hoch!«, keuchte Divya und sprang auf. »Ich gehe hinterher! Schnell!«
Leasar schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall! Das andere Seil ist eher kürzer, ich verliere doch nicht zwei Leute an der gleichen Stelle. Ich warte hier auf Hilferufe, inzwischen sucht ihr anderen die Umgebung nach einem zweiten Einstieg ab. Vielleicht gibt es einen besseren.«
Divyas Ohren rauschten vor lauter Panik, sie hörte bloß noch einen Teil dessen, was Leasar vorschlug, und sie war nicht bereit, nur einen Atemzug lang zu warten, während Tajan dort unten um sein Leben kämpfte. Kurz entschlossen zog sie ihre Metalldornen über die Stiefel und nahm die Haken in die Hand, dann setzte sie den ersten Fuß über die Kante des Lochs – und wurde ruckartig zurückgerissen.
»Ich habe Nein gesagt!«, brüllte Leasar sie an.
Divya zwang sich zur Ruhe. Sie musste bei klarem Verstand sein, wenn sie dort hinunterging. Nur so konnte sie Tajan helfen.
»Ich unterstehe nicht deinem Befehl«, erwiderte sie so sachlich, wie es ihr möglich war, während sie versuchte Leasar niederzustarren.
Schließlich seufzte er und zuckte mit den Schultern. »Trotzdem wird dies nicht der erste Tag in meinem Leben sein, an dem ich zwei Menschen bei einem Einsatz auf die gleiche Weise verliere. Wir knoten jetzt die letzten beiden Seile zusammen. Meine Knoten halten nämlich.«
Divya band sich die Lampe an den Gürtel, wickelte sich das Seil einmal um die Taille und kletterte so schnell hinunter, dass Leasar und Roc beinahe nicht nachkamen. Ungeduldig rief sie immer wieder nach oben: »Mehr Seil!« Und nach unten gewandt rief sie immer wieder Tajans Namen.
Die Wand, in die sie ihre Finger und Fußspitzen grub, bestand aus Stein, Erde, Ziegelresten und Lehm. Offenbar hatte das einstürzende Gebäude damals mit seiner ganzen Last auf den Unterboden gedrückt und verschiedene Schichten verdichtet. Je tiefer sie in das Loch eindrang und je dunkler es um sie herum wurde, desto weniger Halt fand sie. Irgendwann bestand die ganze Wand aus Lehm, und die Haken an ihren Fingern rutschten immer wieder ab. Wie hatte Tajan sich hier noch halten können?
Schließlich war das Ende des Seils erreicht. Das Rauschen des Flusses war inzwischen so laut, dass Divya nicht wusste, ob es noch sinnvoll war, nach Tajan zu rufen. Sie warf einen Blick nach unten, um zu prüfen, wie weit der Boden entfernt war. Der Lampenschein reichte aber nicht bis dorthin, er blendete eher. Ein Seil, um die Lampe hinunterzulassen, hatte sie nicht mehr.
Divya seufzte. Es gab nur eine Möglichkeit, herauszufinden, was dort unten war. Sie löste das Licht von ihrem Gürtel und ließ es fallen. Gebannt verfolgte sie den Fall. Sie sah, dass das Loch kurz unter ihr in eine riesige Höhlemündete, und sie sah auch noch das schwarze Wasser, das unter ihren Füßen durch die Höhle rauschte. Dann wurde es stockdunkel. Die Lampe war lautlos im Fluss versunken. Direkt unter ihr war die Strömung so stark, dass sie alles mit sich riss, viel stärker als draußen vor der Insel, vermutlich weil der Fluss hier weniger Raum hatte. Divya hatte Tajan nie gefragt, ob er schwimmen konnte. Sie konnte es nicht.
Noch einmal schrie sie verzweifelt seinen Namen, als wollte sie sich beweisen, dass er nicht in diesem Fluss ertrunken war. Aber nur das Wasser antwortete ihr, laut und wütend.
Divya klammerte sich an das Seil und an die Wand, während die
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