Messertänzerin
Verua wandte ruckartig den Blick ab und spähte aus einem glaslosen Fenster mit einem Ledervorhang. »Du musst fliehen! Die Wagen sind jetzt weg, aber geh am besten zur anderen Seite des Lagers.«
Divya wollte noch etwas erwidern, aber die Frau schüttelte den Kopf.
»Zwischen uns darf es keine Worte geben«, flüsterte sie und deutete auf die Tür.
Tajan erwartete sie neben Keiroan an der westlichen Mauer. Gerade wollte sie ihn fragen, ob die Tassari auch ihn vor den Wachen versteckt hatten, da bemerkte sie sein hochrotes Gesicht und sie schwieg. Nur mühsam bekam sie das Bild von einem verwirrten Sujim unter einem Frauenrock wieder aus ihrem Kopf. Das Lachen kitzelte in ihrem Hals und in ihren Augenwinkeln, aber sie unterdrückte es.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»In Ordnung …«, zischte er, »… war mein Leben das letzte Mal vor vier Jahren.«
Seine Worte trafen sie wie ein Schlag mit dem Holzstock. Wäre ihr eine Erwiderung eingefallen, hätte sie mit Sicherheit damit zurückgeschlagen, aber sie war einfach sprachlos.
»Kannst du mir noch etwas über die Umsiedlung sagen?«, fragte Keiroan Divya.
Als sie den Mund öffnete, warf Tajan ihr böse Blicke zu, aber sie gab vor, sie nicht zu bemerken, und berichtete kurz und knapp, was sie wusste.
»Ins Wilde Land?« Sie sah, dass Keiroan blass wurde.
»Tajan sagt, dass es dort einen Brunnen gibt und dass ihr versorgt werdet«, versuchte sie die schreckliche Mitteilung abzumildern.
»So? Sagt Tajan das?«, gab er zurück. »Bisher waren wir Gefangene, die aber immerhin für ihren Lebensunterhalt arbeiten konnten, mit einer kleinen Hoffnung darauf, dieses Land eines Tages verlassen zu können. Das nächste Gefängnis wird sicher noch besser sein und wir werden mit den Bürgern dieser Stadt nicht mehr reden dürfen.«
Divya seufzte. »Sie sagen, Ihr hättet zu viele Lichter gerufen.«
»Gerufen?« Keiroans Stimme klang traurig. »Wohl kaum. Sie sind einfach immer in unserer Nähe. Aber das ist nicht der Grund, warum man uns einsperrt.«
»Warum dann?«
Ihr Onkel sah sie mit merkwürdigem Blick an. »Das wäre eine lange Geschichte von einem Volk, mit dem du nichts zu tun haben solltest. Folge deinem Freund. Er brennt darauf, dich hier wegzubringen, und damit hat er vollkommen recht.«
Wind
Die Häuser der Stadt hatten in der Nacht ihre Farbe verloren und schimmerten alle im gleichen unirdischen Silber des Mondlichts. Kaum ein Geräusch drang hier herauf, und ebenso lautlos huschten zwei Schatten im gleichen Rhythmus über die Dächer.
Divya ließ sich vom Rausch des Kletterns und Springens weit forttragen, fort von den Bildern ihrer verlorenen Kindheit und fort von der düsteren Stimmung Tajans. Erst kurz vor der Schule, auf einem Dach mit zwei kleinen Türmen, blieb er stehen und wandte sich zu ihr um.
»Weißt du, was geschehen wäre, wenn die Wachen mich dort gesehen hätten?«, zischte er Divya an, als hätte er die letzte halbe Stunde damit verbracht, seine Wut noch weiter anzufachen.
Überrascht hob sie die Augenbrauen. »Habe ich dich gebeten, mir nachzuschleichen? Wie bist du überhaupt dorthin gekommen?«
Tajan fauchte die angestaute Luft aus den Lungen, während er im Kreis über das Dach ging. Dabei schüttelte er den Kopf, als ärgerte er sich selbst über seine eigene Wut.
»Es ist doch nichts passiert«, sagte Divya irritiert. »Was predigst du mir immer? Nimm den Wind aus deinen Gefühlen. In einem Sandsturm findest du niemals den Weg nach Hause.«
»Komm mir nicht mit den Weisheiten der Sujim!«, gab er schneidend zurück.
Divya seufzte und sah ihn fragend an.
Tajan stützte die Hände in die Hüften und ließ den Blick über die Dächer schweifen. »Ich habe mir … Gedanken gemacht. Nach unserem Gespräch warst du so anders. Ich wusste, dass du etwas vorhattest. Also bin ich dir gefolgt. Bis zu den Tassari!«
Er sprach das Wort aus, als könnte es seinen Mund beschmutzen. Aber vorher hatte Divya die Sorge in seiner Stimme gehört. Und ihr wurde bewusst, dass er seine Karriere für sie aufs Spiel gesetzt hatte. Er hatte für sie gekämpft.
Langsam trat sie von hinten an ihn heran und legte ihre Hände auf seine Schultern. »Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich konnte dir nichts von meinen Plänen erzählen, weil ich keine hatte. Und es tut mir leid, dass du meinetwegen in Gefahr warst.«
»Gefahr?« Er fuhr zu ihr herum, sodass sein Gesicht ganz nah vor ihrem war.
»Du warst in Gefahr«, sagte er beinahe traurig.
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