Messertänzerin
Kartenhaus. Sie konnte sich nicht daran gewöhnen, wie weh es tat. Aber sie konnte es äußerlich ruhiger hinnehmen.
»Das verlangt auch niemand von dir. Bis heute sind wir ohneeinander ausgekommen, wir können es also auch weiterhin. Ich werde nicht den Rest meines Lebens vorgeben, jemand anders zu sein«, stellte sie sachlich fest.
Tajan schnaubte. »Nicht? Du hast dein Leben lang vorgegeben, jemand anders zu sein. Meinst du, ich habe dich nicht gesehen, wie du Tag für Tag den Unterricht verfolgt hast? Dich bewegt hast wie eine Tana, gelernt hast wie eine Tana? Mal hast du Rudja imitiert, mal Jolissa, mal sogar Maita. Und zum Schluss mich. Vorgeben, jemand anders zu sein, das kannst du besser als jede andere.«
Verletzt forschte Divya in seinen Augen. »So siehst du mich?«
Er wandte sich von ihr ab und blickte über die Dächer, als hätte er endgültig begriffen, was zwischen ihnen stand.
»Du hattest keine Vergangenheit, und so hast du dir eine geschaffen«, sagte er. »Du hast versucht, aus Teilen anderer dein eigenes Ich zu schneidern. Schade, dass es nicht funktioniert hat.« Leise fügte er hinzu: »Schade, dass du das Rückgrat vergessen hast.«
Divya öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber das Bild, das er von ihr hatte, war zu schrecklich.
Blind vor Verzweiflung sprang sie vom Dach auf die Agida und verschwand in dem dunklen Holzkäfig, den die ersten Strahlen der Morgensonne noch nicht berührten. Mit Rudjas Eleganz, Jolissas Natürlichkeit, Maitas Würde und Tajans Körperbeherrschung.
Hinter der ersten Biegung der Agida schloss Divya die Augen und hätte sie am liebsten nie wieder geöffnet. Aus einem unbegründeten Instinkt heraus tat sie es dennoch. Und bemerkte, dass ein großer Schatten ihr den Weg versperrte.
»Ich glaube, es gibt einiges zu besprechen«, knarrte Maitas Stimme aus der Dunkelheit. »Vielleicht ist es Zeit für meinen … Gefallen.«
Papier
Noch nie war ihr Maitas fensterlose Schreibkammer so eng vorgekommen wie heute. Als die Leiterin die Tür schloss, konnte Divya gut nachempfinden, wie es einer Maus ging, wenn die Köchin sie mit dem Besen in eine Ecke gedrängt hatte.
»Es tut mir leid, dass ich nachts auf der Agida war«, begann Divya mit gesenktem Kopf. »Ich wollte …«
Ein Knall unterbrach sie. Maita hatte ein dickes Buch zugeschlagen, das auf ihrem Tisch lag. Aber Maita sah nicht das Buch an, sondern nur sie. Als ließe sie ihr keinen Raum für geheime Gedanken.
»Erzähl mir nicht schon wieder, du wolltest die Stadt im Mondlicht ansehen. Halt mich nicht für dumm, blind oder taub!«
Divya erstarrte und schwieg abwartend. Maita lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und dehnte die Anspannung bewusst bis ins Unerträgliche. Schließlich wanderten ihre Finger in ein Kästchen, das im Regal direkt neben dem Tisch stand, und nahmen ein Messer heraus. Maitas Blick hielt noch immer ihren gefangen, während sie mit dem Messer spielte. Dann legte sie es vor Divya ab. Der Griff war mit einem Adler verziert, der die Schwingen ausbreitete.
»Vielleicht hätte ich dich früher bremsen sollen in deiner Begeisterung für diesen Mann!«, sagte Maita. »Aber ich gebe zu, dass mir sein Unterricht gefiel. Ein Sujim gibt niemals seine Geheimnisse preis und er würde niemalseine Dienerin unterrichten. Wie hast du ihn nur so weit bekommen?« Maita zwinkerte. »Du scheinst verborgene Talente zu haben. Auf jeden Fall kannst du stolz auf diesen Unterricht sein. Deine Fähigkeiten kann dir niemand nehmen.«
Divya fiel keine Antwort darauf ein. Maita wusste von allem? Wie viel?
»Willst du gar nicht hören, warum ich sein Messer habe?«
Divya wartete, noch immer wie erstarrt.
»Ich habe es einige Tage vor dem Einbruch im Garten gefunden.«
»Vor dem Einbruch?«, fragte Divya verwirrt.
»Allerdings. Jemand hat unsere Schule ausgekundschaftet, bevor er hier eindrang. Dieser Jemand wusste vermutlich genau, wann und wo Sadas Schränkchen stehen würde. Und er wusste, in welcher Nacht ein Mädchen auf dem Dach tanzen würde, das Alarm geben konnte, falls es etwas Ungewöhnliches sah. Nur dass dieses Mädchen völlig anders reagiert hat als geplant. Der Alarm hätte unseren Einbrechern gut gefallen, weil sie erwischt werden wollten. Nicht geplant hatten sie vermutlich, dass ihnen eine alte Frau mit einem Messer dazwischenkam.«
Divya hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Warum sollte Tajan so etwas tun? Aber sie erinnerte sich, dass sie einiges in dieser Nacht seltsam
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