Messertänzerin
riesig, und als sie mit einer Kerze durch die Gänge schlich, kam sie sich vor wie ein Einbrecher auf der Suche nach Beute, mit dem Hals bereits fast am Galgen. Aber es war, wie Maita gesagt hatte: Das Gebäude stand leer. Es hatte einem Verräter gehört, der gehängt worden und dessen Familie in ein Haus der unteren Kasten gebracht worden war. Solange Warkan den Palast niemandem schenkte, wuchsen Staub und Spinnweben auf den teuren Möbeln und verwandelten die herrschaftlichen Räume in regelrechte Grüfte. Die Mäuse hatten längst alle Hemmungen verloren und liefen auf ihrer verzweifelten Suche nach Futter quer durch die Flure.
Divya, die sich ihr Leben lang inmitten des Trubels der Schule nach dem Alleinsein gesehnt hatte, fühlte sich nun von der Stille bedroht. Jeder Schritt, den sie machte, war viel zu laut, und jeder Atemzug hallte als hauchendes Echo von den stoffbezogenen Wänden wider.
Nachdem sie alle Räume durchwandert und keine Spuren eines anderen Menschen bemerkt hatte, fand sie im Innenhof auch den Brunnen, den Maita erwähnt hatte. Woher kannte sich die Leiterin in diesem Haus nur so gut aus? So selten, wie sie das Schulgebäude verließ, konnte sie kaum zufällig darauf gestoßen sein.
Aus Gewohnheit beschloss Divya, es sich unten in derKüche bequem zu machen. Das Haus war einfach zu groß für sie. Es kam ihr vor wie ein riesiges Tier, in dessen Versteck sie eingedrungen war und das leise atmend auf sie lauerte.
Am Abend hörte sie zum ersten Mal ein Geräusch, das nicht von ihr selbst verursacht wurde: das Knarren einer Tür. Das behutsame Zuklappen derselben Tür. Dann Schritte. Und sie näherten sich auf direktem Weg der Küche.
Divya sprang auf und schlich den Flur hinunter, den Schritten entgegen, bis sie den Vorratsraum erreicht hatte. Dort stellte sie sich hinter die angelehnte Tür und spähte um die Ecke. Wenige Herzschläge später ging eine Gestalt in einer gelben Vesséla dicht an ihr vorbei. Divya atmete auf und folgte ihr ganz leise. In der Küche blieb sie hinter Maita stehen, die ihre Decken gefunden hatte.
»Divya?«, rief die Schulleiterin ungeduldig.
Als sie sich endlich umwandte, zuckte sie heftig zusammen.
»Du hast mich erschreckt.«
»Ihr mich auch«, gab Divya zurück.
Maita schnaubte und setzte sich auf einen ungemütlich aussehenden Stuhl an den Küchentisch. Divya setzte sich zögernd auf den zweiten Stuhl, da sie keinen niedrigeren Hocker entdecken konnte.
»Wir sollten über den Gefallen reden, den du mir schuldest«, begann Maita. »Und ich hoffe, dir ist inzwischen bewusst, wie tief du in meiner Schuld stehst. Ich habe dich als Kind aufgenommen, dir ein Zuhause und eine Vergangenheit gegeben. Und jetzt ein Versteck, in dem die Wache dich zumindest vorläufig nicht finden kann.«
Divya spürte, wie die Worte der Schulleiterin sich wie Blei auf ihre Brust legten.
»Sucht mich denn schon jemand?«, fragte sie stirnrunzelnd.
Maita nickte. »Noch vor dem Mittagessen waren sie da und wollten dich ins Lager der Tassari bringen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie Tajan gestaunt hat, als du nicht mehr da warst!« Sie lachte. »Und auch dafür solltest du mir dankbar sein. Sie haben mich eine Weile verhört, wollten wissen, warum ich dich ausgerechnet jetzt verkauft habe.«
Divya schloss die Augen. Und sie hatte Tajan vertraut!
»Aber das ist deine Vergangenheit, lass uns über deine Zukunft reden!«, lächelte Maita. »Sicher ist es ein Zeichen der Geister: Vor einigen Wochen hatte ich ein Gespräch mit einem netten jungen Mann aus der Kaste der Lehrer. Er führt eine Schule für Mädchen aus den mittleren Kasten. Sie haben wie bei uns Unterricht in Tanz, Gesang und Umgangsformen. Und dieser nette junge Mann sucht nun eine Ehefrau, die ihm möglichst viel bei seiner Arbeit helfen kann. Leider konnte ich dem Herrn nicht helfen, weil keine meiner Schülerinnen im heiratsfähigen Alter seinen Anforderungen entspricht. Und seiner Kaste. Aber …«, sie zog die Augenbrauen hoch, »… dann gab es da mal eine Schülerin, deren Eltern während ihrer Schulzeit verstarben, sodass ihr Schulgeld nicht mehr bezahlt wurde und ich sie vor die Tür setzen musste. Alles geschah so schnell, dass ich ihre Papiere noch habe. Wenn ich sie dir gebe, wärst du die ideale Heiratskandidatin für diesen freundlichen Lehrer. Ich könnte mir gut vorstellen, wie du Mädchen all das beibringst, was du in vielen Jahren auf der Agida von mir, Rudja und den anderen gelernt hast.«
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