Messertänzerin
Selurias Ermordung kann doch nicht der Grund für Euch sein … Welches Interesse habt Ihr an seinemTod?«, fragte sie und sah Maita ins Gesicht, während diese sich bemühte, dem Blick auszuweichen. Zum ersten Mal kam es Divya vor, als würde sie versuchen, in den Gedanken der Leiterin zu lesen, nicht umgekehrt. Maita schwieg eine Weile. Atmete leise in die Stille hinein. Als sie Divyas Blick endlich begegnete, lag ein Funkeln in ihren Augen, das beinahe an Tränen erinnert hätte – wenn Divya nicht gewusst hätte, dass diese Frau niemals weinte.
»Der Mann hat viele Morde begangen. An vielen unschuldigen Menschen. Es ist schwer, an ihn heranzukommen, sonst hätte ich es schon vor Jahren getan. Aber es muss jemand tun, der seine Waffe so tödlich einsetzen kann wie du. Und jemand, der so harmlos wirkt wie eine anmutige, junge Tänzerin.«
Als Maita gegangen war, stieg Divya nach oben, wie immer, wenn sie nach Freiheit suchte. Auch bei diesem Haus gab es eine Agida und eine Möglichkeit, über sie aufs Dach zu gelangen. Dort atmete sie tief durch, sog die Nachtluft ein wie eine Ertrinkende und schüttelte den Staub aus den Haaren. Den Kopf im Nacken betrachtete sie die Sterne. Aber heute kamen sie ihr nicht so fern und hell vor wie sonst. Kein Versprechen mehr, wie groß die Welt sein konnte. Plötzlich war der Nachthimmel nur noch das nächste Dach über ihr – und sie musste sich auf ein Leben darunter beschränken.
Sie wandte sich in Richtung der Schule. Es war ungewohnt, von außen dorthin zurückzublicken. Von der Welt aus, in die sie immer reisen wollte. Auf einmal nahm sie in der Dunkelheit eine Bewegung wahr. Als sie die Augen zusammenkniff, konnte sie aufdem Dach eine Gestalt erkennen. Tajan! Vermutlich bei seinen Wurfübungen. Seltsamerweise spürte sie einen starken Drang, zu ihm hinüberzugehen und ihn zu berühren. Als müsste sie sich davon überzeugen, dass er echt war, ein Teil dieser Welt. Überlagert wurde dieses Gefühl von tiefem Schmerz über seinen Verrat – und ihre Dummheit. Hätte sie nicht wissen müssen, dass er zur Wache gehörte und einfach einen Auftrag ausführte? Was hatte Jolissas Vater noch über die Sujim gesagt? Sie sind ehrlose Mörder und Spione, die von jedem angeheuert werden können, der genug bezahlt.
Irrte sie sich oder waren seine Würfe wütender als sonst? Natürlich, schließlich war seine Beute ihm entkommen und er hatte die entlarvte Tassari nicht ausliefern können!
»Such mich doch«, flüsterte Divya mit der bitteren Stimme der Enttäuschung. »Aber kann ein Adler eine Ameise fangen?«
Am nächsten Morgen kehrte sie gleich mit den ersten Sonnenstrahlen aufs Dach zurück, froh, diesem Haus voller Staub und Dunkelheit entfliehen zu können. Ihren entsetzlichen Gedanken konnte sie aber auch hier oben nicht entkommen.
Einige Stunden später bemerkte sie unten auf der Straße einen langen Zug mit geschmückten Pferden, Sänften und Fußvolk, der vor der Schule anhielt. Ein Mann in Blau stieg vom Pferd, klopfte an die Tür und wartete. Kurz darauf verneigte er sich tief und deutete auf die am aufwendigsten verzierte Sänfte, die nicht von Pferden, sondern von acht Trägern gehalten wurde. Sie war größer als jede andere Sänfte, die Divya je auf der Straße gesehen hatte!Ein Mädchen in einer blauen Vesséla und mit einer blauen Maske schritt mit hoch erhobenem Kopf auf die Sänfte zu. Jolissa!, durchfuhr es Divya. Es tat weh, sie gehen zu sehen, und gleichzeitig war ihr Anblick, als sie würdevoll in die Sänfte stieg, wunderschön. Das war der Moment, den sie sich in ihren Träumen jahrelang bis ins letzte Detail ausgemalt hatte! Die blauen und weißen Bänder an den Köpfen der Pferde, die blau gefärbten Blüten im Schweif jedes einzelnen Tieres und die kostbaren Faeria-blauen Tücher, hinter denen Jo nun verschwand. Der Mann, der sie bis dorthin geleitet hatte, verneigte sich noch einmal und stieg nun auf das vorderste Pferd. Auf sein Handzeichen hin setzte sich der Zug wieder in Bewegung, an Divyas Dach vorbei.
Sie musste vorsichtig sein, inzwischen standen viele Menschen an ihren Fenstern und auf ihren Balkons und jubelten der jungen Braut zu. Dennoch ließ Divya es sich nicht nehmen, ihrer Freundin bei ihrem Triumph zuzusehen. Als sie nahe genug waren, betrachtete sie den Mann auf dem ersten Pferd und erkannte ihn sofort: Roc, in feinste Seide gekleidet. Aber das Lächeln gefror Divya auf den Lippen, denn Roc sah so finster aus, als wäre dies
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