Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
kein Gemüse.«
»Sie saß gerade noch auf dem Fernseher.«
»Das müssen die Nebenwirkungen des Morphiums sein. Hab keine Angst, sie lassen bald nach.«
»Genau das macht mir ja Angst.«
»Die Zeit der Angst ist vorbei, Tom. Wenn du willst, kannst du heute Nacht zum ersten Mal im Himmel baden. Halte dich um Mitternacht bereit.«
»Wirklich? Bin ich denn schon so weit?«
»Ja, ich glaube, es ist der richtige Zeitpunkt für deine Himmelstaufe.«
Sie tritt an mein Bett, wirft einen raschen Blick zur Tür und küsst mich auf die trockenen Lippen. Vertrautes Bonbonpapierknistern und wieder das Verbot, den Inhalt zu vernaschen.
»Wenn ich dich küsse, kommt es mir vor, als würde ich die Vogelfrau betrügen.«
»Ich werde zwar schnell eifersüchtig, aber doch nicht auf mich selbst. Soll ich die Fotos entwickeln?«, fragt sie, als sie die Filme auf meinem Nachttisch sieht.
»Ich fürchte mich ein wenig vor dem, was darauf zu sehen sein wird.«
»Umso besser, dann ist die Überraschung größer. Ich kenne kein geeigneteres Mittel, deine Gedanken auf Trab zu bringen und die Verwandlung voranzutreiben.«
»Würde ein wenig Hautkontakt nicht die gleiche Wirkung haben? Ich will dich spüren.«
Die als Ärztin verkleidete Vogelfrau geht zur Tür, schließt ab und schaltet das Leuchtschild »Kein Zutritt – Behandlung« an. Als ihre plastikverschweißten Finger mir wie ein Gewitterwind über die Haut fahren, plustern sich meine Federn auf. Zum ersten Mal kommen wir uns am helllichten Tag so nah. Sie befiehlt mir, die Augen zu schließen. Ich lasse eins halb offen. Endorphina nimmt meine Kissen und schüttelt sie. Es schneit Federn auf meinen Kopf und in meinem Innern. Sie nimmt ein paar Federn und legt sie sich auf Hände und Gesicht.
»Mach die Augen zu, Tom Cloudman«, flüstert sie. Ich gehorche und stelle mir die Vogelfrau vor. Ich bin wieder in ihrem Nest. Ihre Finger ergreifen mich und versetzen mich sanft in Aufruhr. Meine Finger ertasten ihren Körper, sie führt meine Hände zu den Stellen, die sie gerade eben mit Federn bedeckt hat. Das Placebo wirkt gut. Ich möchte ihr eine flammende Liebeserklärung machen. Wie früher bei meinen Stunts wage ich den Sprung ins Nichts.
»Ich würde dir gern meinen Samen schenken …«
»Was?!«
»Du könntest ihn aufbewahren, für alle Fälle … Wenn es neulich auf dem Dach geklappt hat, habt ihr etwas, womit ihr die Familie vergrößern könnt.«
»Du willst, dass ich dein Sperma einlagere?«
»Ja, wie einen guten Wein. In einer Flasche, auf der der Jahrgang steht.«
»Und das Etikett erzählt von deinem Leben als schlechtester Stuntman aller Zeiten? Und ein Gütesiegel garantiert, dass es sich tatsächlich um deinen Samen handelt?«
»Genau. Dann bin ich fast unsterblich.«
Tom Cloudman ist in meinen Armen eingeschlafen. Die Metamorphose schreitet voran. Sein Gefieder wird immer dichter, das Rot kräftiger. Allerdings ist sein Vogelkörper noch weit davon entfernt, aus dem Ei zu schlüpfen. Das Problem ist, dass sein Menschenkörper kurz vor dem Kollaps steht. Soll ich auf seine Wandlungsfähigkeit setzen und mich um den Vogel in ihm kümmern oder bis zuletzt um seinen Menschenkörper kämpfen? Die Behandlung ist an einem kritischen Punkt, die Metamorphose kann ihn jederzeit töten. Ich kämpfe Seite an Seite mit der Vogelfrau um sein Leben. Ich spüre sie dicht unter der Schädeldecke. Eine große Verantwortung lastet auf meinen Schultern. Wenn ich alles auf eine Karte setze, Tom in den Himmel schleudere und er den Schock nicht überlebt, werde ich mir ein Leben lang Vorwürfe machen. Aber ich kann nicht mehr zurück, und er auch nicht. Denn wenn er auf der Isolationsstation stirbt, würde ich mir das noch weniger verzeihen.
Als ich aufwache, ist es mitten am Tag. Weicher Flaum kitzelt meine Haut. Man könnte das Krankenhaus mit mir putzen, ich sehe aus wie ein Staubwedel. Ich entferne meine mit Heftpflastern fixierten Flügel, sie sind jetzt überflüssig. Schwerfällig streiche ich mir über den Kopf, er ist fast so weich wie Endorphinas Hände. Plötzlich fährt mir ein stechender Schmerz in die Schulterblätter. Das ist ein gutes Zeichen, hat meine Ärztin gesagt. Die Flügel stehen kurz vor dem Durchbruch.
Victor hat nach mir gefragt. Endorphina hat ihm erklärt, ich hätte mich in ein Ei zurückgezogen und würde bald als Vogel schlüpfen.
»Tut das weh?«, war alles, was Victor wissen wollte.
»Bist du bereit für den großen Tag, Tom Cloudman?«,
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