Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
beginne zu singen. Endorphina spielt immer schneller. Pauline schiebt den Servierwagen an. Er gewinnt an Fahrt.
»Fang an, mit den Flügeln zu schlagen, aber verkrampfe dich nicht. Sieh immer geradeaus, und denke an deinen sehnlichsten Wunsch«, ruft Endorphina.
Die Vögel zwitschern immer lauter, der Wagen rollt schneller und schneller. Der Himmel kommt näher, die Leinen ziehen an meinem Körper, ich hänge in der Schwebe. Das Mondkind kreischt wie beim Achterbahnfahren.
»Und jetzt gib alles«, befiehlt die Vogelfrau.
Der Federnteppich zieht mit rasender Geschwindigkeit unter mir vorbei, Pauline sind Propeller gewachsen.
Ich bäume mich mit letzter Kraft auf, schließe die Augen und trällere aus voller Kehle.
»Ich muss dir noch was sagen«, ruft Endorphina mir hinterher.
»Beeil dich!«
»Ich bin schwanger.«
Ein Feuerwerk explodiert in meinen Adern. Ich lebe! Ich bin soeben neu geboren worden! Ein Phönix im Pyjama! Ich stoße mich von dem Servierwagen ab. Die Vogelfrau und das Mondkind jubeln, wenn auch ein wenig ängstlich. Unter mir schrumpft das Krankenhaus. Pauline, Endorphina und Victor werden erst zu Playmobil-Männchen, dann zu Playmobil-Fliegen, dann zu kleinen schwarzen Punkten, dann sind sie verschwunden. Ich versetze der Luft kräftige Schläge. Meine Vogelschar ist verstummt, nur noch das Rauschen ihrer Flügel ist zu hören. In mir brennen ambivalente Gefühle. Weinen und Lachen verursachen einen Kurzschluss, ich zittre in Erwartung eines neuen Gefühlssturms.
Ich streife die Spitze einer riesigen Tanne, an der die Sterne befestigt sind. Sie fallen als Silberregen zur Erde und werden zu tausend neuen Lichtern. Pures Glück! Der Wind trägt mich immer höher in den Himmel, die Nacht schmeckt nach Sternschnuppen. Ich spüre, wie ich in einen Rausch gerate. Solange ich noch merke, wie sich mein Zustand verändert, habe ich die Kontrolle, aber ich würde mich gern im Wind verlieren. Statt zu lenken, will ich in Trance fallen, um noch höher aufzusteigen. Und dann wieder in den Kontrollgang zurückschalten, damit ich länger etwas davon habe. Eine große wattige Haufenwolke, die vom Mond angestrahlt wird, hüllt mich ein. Ich fliege mit offenen Augen hindurch. Glück und Kälte treiben mir Tränen in die Augen. Ich bin Regen, und morgen werde ich lernen, Schnee zu sein!
Plötzlich versperrt eine große schwarze Gewitterwolke den Horizont, ein düsterer Koloss. Der Wind steckt sich zwei überdimensionale Finger in den Mund und pfeift gellend. Meine Rettungsvögel bremsen. Die Wolke dehnt sich aus, wächst ins Unermessliche, wälzt sich auf mich zu und saugt mich ein. Ich rase ins Ungewisse, der Wind jammert immer lauter. Ich kann nichts mehr sehen. Das Klagen schwillt an, erhellt von zuckenden Blitzen. Der Wind knebelt mich, ich bringe keinen Ton mehr heraus. Mitten in der Finsternis leuchten einzelne Partikel und bilden eine Lichterkette. Ich will sie mir aus der Nähe ansehen und dem eisigen Gesang aus dem Inneren der Wolke lauschen. Was sind das für Partikel? Sind es Vogelgespenster? Neugeborene Schneeflocken? Ich schlage nicht mehr mit den Armen, ich treibe schwerelos dahin.
Endorphinas Stimme reißt mich aus dem Schwebezustand, die Rettungsvögel ziehen mich ruckartig nach hinten. Die Gewitterwolke verzieht sich, und plötzlich zerrt der Wind wieder heftig an mir. Durch eine dünne Wolkendecke sehe ich die Vogelfrau. Die Rettungsvögel verbinden uns. Endlich lösen sich die letzten Schwaden auf. Endorphinas Nest leuchtet unter meinen Füßen wie ein roter Planet. Ich fürchte, ich habe in den Wolken eine Socke verloren.
Ich habe Tom auf die Isolierstation zurückgebracht und ihn wieder an den Tropf gehängt. Er war völlig erschöpft und krümmte sich auf dem Bett zusammen. Ich habe gewartet, bis er eingeschlafen war, und ihm dann einen Sauerstoffschlauch in die Nase geschoben.
Seine Krankheit ist jetzt im Endstadium, aber die Metamorphose gewinnt immer mehr die Oberhand, sie holt ihn aus seinem kranken Körper heraus. Der Abstecher in den Himmel, so gefährlich er auch war, hat ihm gezeigt, welche Möglichkeiten ihm offenstehen. Seine Ängste und Zweifel verblassen.
Victor hat mir geholfen, das Knäuel aus Vögeln, in dem sich Tom verheddert hatte, zu entwirren. Es fällt dem Jungen schwer zu akzeptieren, dass sein Wolkenmann so schwach ist. Toms körperlicher Verfall verschlimmert seine eigenen Ängste. Ich habe ihm erklärt, dass auch Superhelden verwundbar sind, sie aber immer
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