Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
auf einem aufgeschlagenen Ordner aus, will mich an der Glühbirne, die von der Decke hängt, festhalten, verbrenne mir die Finger, reiße den Draht herunter und falle zum zweiten Mal der Länge nach hin. Die Rugbyspieler im blauen Kittel tragen mich im Triumphmarsch zu meiner Zelle und fesseln mich ans Bett. Ich frage, ob ich sie fotografieren darf. Sie nehmen eine Pose ein, eine Viertelsekunde lang bleibt die Zeit stehen, im Hinausgehen winken sie freundlich. Ich röchele die letzten Noten von Blue Moon .
eute Morgen habe ich auf meine Flügel gekotzt. Wie früher nach meinen Auftritten ist die Rückkehr in die Realität ein Schock. Adrenalin überflutete das Gehirn und betäubte den Schmerz, aber wenn der Rausch vorbei war, blühten die blauen Flecken. Mein gestriges Verhalten ist mir sehr peinlich. Man misst meinen Blutdruck, gibt mir Spritzen, füttert mich, während ich mich schäme. Niemand erwähnt meine Kussattacke. Ich danke ihnen stumm.
Die Rote Bete ist auf dem Vormarsch, sie schickt Kampfhubschrauber in meinen Magen. Ich bin kurz davor, die Silikonsuppe, die man mir vorsetzt, wieder auszuspucken. Immerhin kann die Rote Bete nicht verhindern, dass meine Federn immer länger, dichter und seidiger werden. Pauline kann mir nicht mehr in die Augen sehen. Die anderen Krankenschwestern auch nicht. Mein sprießender Flaum bereitet ihnen Unbehagen. Endorphina hat gesagt, ich solle mich regelmäßig fotografieren, damit ich den Fortschritt der Verwandlung verfolgen kann. Wenn ich zu schwach dafür bin, streiche ich nur mit den Fingerspitzen über meine Schwingen und schlafe selig ein.
» Happy birds day to you … Happy birds day to you, Mister Cloudman … « Träume ich? Oder zeichnet das Dreamoskop auch die Tonspur von Träumen auf?
Die Tür geht auf, auf der Klinke liegt eine behandschuhte Hand. Endorphina tritt ein. Sie sieht aus wie eine Serienkillerin, die sich anschickt, den Abwasch zu machen. Ihr Körper kommt meinem näher, sie legt mir plastikverpackte Flügel um den Hals. Skianzugknistern. Die Vogelfrau zieht ein längliches Stück Stoff aus ihrem Dekolleté. Es ist meine Schlafanzughose.
»Wenn du dich als Riesenkondom verkleidest, wirst du bestimmt nicht schwanger«, scherze ich, um den Engel zu verscheuchen, der durchs Zimmer geht.
»Wart’s ab. Die erste Runde haben wir hinter uns. Vielleicht war es ja ein Treffer. Bei einem Filmdreh ist der erste Take auch oft der beste. Wie geht es dir heute?«
»Ich spüre einen Drang in mir, der immer stärker wird. Gestern konnte ich ihn nicht mehr kontrollieren und habe alle Krankenschwestern auf der Station abgeküsst.«
»Das sind die Nebenwirkungen. Du musst lernen, deine animalischen Triebe in geordnete Bahnen zu lenken, ohne sie zu unterdrücken.«
»Leichter gesagt als getan …«
»Konzentrier dich. Es ist wichtig, dass du nicht auf Abwege gerätst. Hör zu, ich erzähle dir eine Geschichte: Der Legende nach verwandelten sich Charlie Chaplin und Adolf Hitler nach Einbruch der Dunkelheit in Löwen. Die Energie des einen war schöpferisch, die des anderen zerstörerisch. Aber in ihrer Tiergestalt waren sie nicht voneinander unterscheidbar.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Du entscheidest, wer du bist.«
»Kannst du die Frischhaltefolie nicht ausziehen? Nur für ein paar Minuten?«
»Doch, das kann ich, aber du darfst mich nicht anfassen. Die Ansteckungsgefahr ist zu groß.«
Ich nicke, um ihr zu bedeuten, dass ich einverstanden bin.
»Versprochen?«
»Versprochen!«
Endorphina entblättert sich. Bonbonpapierrascheln. Im Dunkeln schimmert ihr Gefieder bläulich. » Happy birds day to you … «, gurrt sie wieder. Ich kralle meine Finger in die Matratze, um mich nicht auf sie zu stürzen. Mein Flaum lädt sich elektrostatisch auf. Ich nehme das Dreamoskop vom Nachttisch und schieße Fotos von ihrem nackten Körper. Endorphina lässt sich auf das Spiel ein und fliegt eine Runde durchs Zimmer, klammert sich an der Decke fest, flattert über meinen Kopf hinweg und landet schließlich elegant am Fußende des Bettes. Der Film ist voll, meine Karussellfahrt zu Ende. Endorphina zieht wieder ihren Plastikanzug an und schmiegt sich knisternd an meinen Rücken.
»Ich muss jetzt gehen. Ich kann nicht bleiben, bis ich mich zurückverwandle, ich habe nichts zum Anziehen dabei.«
»Warte. Du musst mir einen Gefallen tun. Könntest du nachsehen, ob Victor im Flur auf mich wartet? Wir wollten uns dort nach Einbruch der Dunkelheit treffen, aber
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