Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
einen Weg finden, ihre Schwäche zu überwinden. Das macht sie zu Superhelden. Ihn zu beruhigen hilft mir, selbst die Ruhe zu bewahren.
Tom ist am frühen Abend aufgewacht. Seine Federn sind weiter gewachsen, jetzt ist nur noch sein Gesicht nackt. Ich habe ihn bei dem Versuch ertappt, das Federbüschel auf seinem Kopf zu kämmen. Als er aus dem Badezimmer kam, sah er ziemlich zerzaust aus.
Die Untersuchungsergebnisse zeigen, dass sich Toms menschlicher Gesundheitszustand weiter verschlechtert. Mit jedem Tag gerät er mehr außer Kontrolle, er lacht und weint und zwitschert wie ein echter Vogel. Gestern, Heute und Morgen passen für ihn in eine Sekunde. Er spricht kaum noch und schläft fast die ganze Zeit. Manche würden sagen, dass er den Verstand verliert. Ich finde, er wird wieder zum Kind und erhebt sich wie ein Phönix aus der Asche.
Wenn ich ihn zu seinen nächtlichen Ausflügen entführe, bemüht er sich, mir zuzuhören und mir seine Zuneigung zu zeigen, aber sein tierischer Instinkt setzt sich immer öfter durch. Er schmiegt sich gurrend an meine Brust und schläft dort ein.
Am auffälligsten ist, wie sehr er schrumpft. Sein Körper wird ihm allmählich zu groß. Auch seine Art, sich zu bewegen, verändert sich. Sein Hals zuckt hin und her, die Schultern fallen nach vorn.
Victor fragt mich immer wieder, ob Tom irgendwann ganz zum Vogel wird. Und ob Tom ihn dann noch erkennt. Und ob er ihn behalten darf. Ich flüstere jedes Mal ein leises Ja. Beruhigen, immer beruhigen.
Aber ich bin nicht beruhigt. Letztlich weiß ich auch nicht, was passiert, wenn ein Mensch sich vollständig verwandelt. Ich bin ein Mischwesen, durch meine Adern fließt immer noch Menschenblut. Jeden Tag, wenn die Sonne aufgeht, werde ich wieder zur Frau. Ich sehe aus wie ein Mensch, denke wie ein Mensch und handle wie ein Mensch. Was wäre aus mir geworden, wenn ich ganz zum Vogel geworden wäre? Würde ich dann noch sprechen und denken können? Mich erinnern? Oder würde ich nur noch Eier legen und mich vor Füchsen fürchten?
Wenn dein Herz durchhält, was geschieht dann mit deinen Erinnerungen, Tom Cloudman? Wirst du morgen noch wissen, wer ich bin?
ch frage mich, seit wann ich in dieser Zelle eingesperrt bin. Mir kommt es vor, als hätte ich schon immer an den sinnlichen Lippen dieser Ver- und Entkleidungskünstlerin gehangen, deren Bauch sich zusehends rundet.
Vater werden … Ich wünschte, die Zeit würde langsamer vergehen, damit ich jeden Moment genießen kann. Ich will Endorphinas Bauch wachsen sehen. Ich will nicht mehr den Titel des schlechtesten Stuntmans aller Zeiten tragen, sondern den des besten Papas der Welt.
Die Zukunft rinnt mir durch die gefiederten Finger, aber ich lerne immer neue Selbstverteidigungstechniken. Die Angst vor dem Tod brennt nicht mehr wie Säure in mir, sie pocht nur noch dumpf. Meine länger werdenden Federn trösten mich.
Die Qualität meiner Träume verbessert sich. Wenn der Schlaf naht, konzentriere ich mich auf das, was ich sehen möchte. Ich atme langsamer und versuche, die Gedankenmaschine anzuhalten, die mich zu Boden drückt. Manchmal funktioniert es. Dann erkunde ich die verwunschensten Winkel meines Hirns. In meinen Träumen ziehen Endorphinas Vögel mein Bett hoch über das Krankenhaus. Aus der Gondel dieses lebenden Heißluftballons blicke ich auf das Gebäude hinab, das unter den Wolken verschwindet. Binnen Sekunden ist es nur noch eine Erinnerung, die ihrerseits verblasst. Mein Bettzeug löst sich auf, die Vögel verschwinden. Endorphinas Bauch hat mich abheben lassen. Ich fliege. Die Vogelfrau gebiert in einem Wolkennest unser Kind.
»Zeit für die Morgenwäsche, Mister McMurphy!« Eine Stimme wie eine Hupe reißt mich aus meiner Ekstase. Ich öffne die Augen. Ich schwebe über dem Bett. Nackt, wie mir scheint. Die Krankenschwester kreischt, als würden die Beatles in meinem Zimmer auftreten. Ich falle auf die Matratze wie ein nasser Sack. Die Tür schlägt zu und das Kittelgespenst ist verschwunden. Früher hat es mir mehr Spaß gemacht, anderen einen Schrecken einzujagen, jetzt finde ich es vor allem demütigend.
Ich schleppe mich zum Badezimmer, der Weg wird von Tag zu Tag länger. Endlich dort angekommen, ziehe ich mich am Waschbecken hoch, das mir mittlerweile riesig erscheint. Ich habe Angst vor meinem Spiegelbild.
Bin ich das? Aus dem Spiegel starrt mir ein umgestülptes Kissen entgegen. Ich blicke durch ein Kaleidoskop und sehe nur noch Federn.
Ich versuche, zurück
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