Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
flüstert jemand mir zu, während ich vor mich hin dämmere.
»Ja.«
»Warte noch einen Moment.«
Wo soll ich auch hin, meine Beine tragen mich nicht mehr. Wenn ich versuche zu laufen, tanze ich eine Sekunde lang einen unfreiwilligen Twist und falle dann wie ein Kartenhaus in mich zusammen.
Zu meiner großen Überraschung kommt Endorphina in Begleitung Paulines wieder. Meine Krankenschwester ist also in die Verschwörung eingeweiht.
»Ich brauchte jemanden, dem ich vertrauen kann. Niemand darf uns sehen«, sagt meine Ärztin. »Pauline hat sich bereit erklärt, Schmiere zu stehen.«
Endorphina reicht mir eine Schere.
» It’s time, Mister Cloudman … It’s time! «
Ich zerschneide ihr Zombiekostüm aus Plastik und streichle ihre Haut. Unvorstellbares Glück durchströmt mich und gibt mir neue Energie, meine schwachen Beine tragen mich plötzlich wieder. Happy birds day to me!
»Sehr gut! Pauline? Ist die Luft rein?«
»Ja, niemand zu sehen«, flüstert Pauline konspirativ.
Meine Ärztin schließt die Tür. Dann zieht sie wie in einem Western einen Flachmann aus dem Dekolleté und hält ihn mir vors Gesicht, damit ich das Etikett lesen kann: »Sperma Supérieur, Tom Cloudmans Auslese, mit Gütesiegel.«
»Das muss bis obenhin gefüllt werden, mein Lieber, zur Sicherung der Nachkommenschaft«, sagt sie und streift den Arztkittel ab.
Sie hat sich schick gemacht, Netzstrümpfe, Fledermauswimpern, tiefrote Lippen, die Tote aufwecken könnten, schwindelerregende Absätze. Sie will heute Abend offenbar eher fliegen als laufen. Bei jeder Bewegung ihrer Brüste raschelt das Federkorsett. Wenn sie so weitermacht, hebe ich ab, stoße gegen die Decke, sterbe vor Lust.
Ich höre einen Servierwagen über den Flur rollen.
»Kannst du aufstehen? Schaffst du es bis in den Flur?«, fragt meine Vogelfrau.
»Wenn ich den Tropf ausstecke, vielleicht.«
»Heute darfst du ihn ausstecken.«
Ich entferne den Plastikschlauch ganz ohne Hilfe, in meinem Zustand eine stolze Leistung. Als ich meiner Ärztin folgen will, wird mir allerdings schwindelig.
Ich tappe im Schlafanzug aus meiner Zelle. Die Treppe zum Dach kommt mir unglaublich steil vor, aber mit Endorphinas Hilfe überwinde ich Stufe um Stufe. Ihr Arm ist meine Rettung. Endlich stehe ich wieder an der Schwelle zum Himmel.
Victor ist auch da. Er trägt ein Spiderman-Kostüm, aus seinen Ärmeln baumeln Plastikschläuche. Er grinst wie ein Trickfilmmond und schreit begeistert:
»Megatom Cloudman ist zurück!«
Schon ist das Lampenfieber da.
»Darf ich dir deinen Flugassistenten vorstellen?«, sagt Endorphina.
Der Servierwagen ist nicht wiederzuerkennen. Er ist ein rollender Baum, Hunderte von Vögeln sitzen auf seinen metallischen Ästen und schwatzen wie Freundinnen nach dem Kinobesuch.
»Zum Schwungholen«, sagt Endorphina und deutet auf den Wagen. »Wenn Sie bitte Platz nehmen wollen«, fügt sie mit todernster Miene hinzu.
Pauline applaudiert. Meine Krankenschwester scheint ebenfalls eine Metamorphose durchzumachen: Sie versteht plötzlich Spaß.
Ich lege mich auf den zweckentfremdeten Servierwagen, das Lampenfieber läuft über, mein Gehirn zwitschert. Ängstliche Vorfreude. Die Sekunden ziehen sich in die Länge. Mein Gehirn pulst von innen gegen die Schläfen. Ein Erdbeben erschüttert meinen Körper. Auf keinen Fall darf ich ins Zweifeln geraten, dafür ist es jetzt zu spät. Die Stunde der Metamorphose hat geschlagen.
Pauline bindet mir eine Schar Vögel an jede Schulter. Schwimmflügel, um durch die Wolken zu kraulen! Gerade noch habe ich mich so unbesiegbar gefühlt, dass Superman vor Neid erblasst wäre, aber jetzt komme ich mir albern vor: Ich bin todkrank, begebe mich in Lebensgefahr und mache dabei auch noch eine schlechte Figur.
Die zweihundertfünfzig Kanarienvögel plustern sich auf, der Servierwagen beginnt zu vibrieren, der Himmel zieht meine Fingerspitzen magnetisch an.
»Du lenkst, Tom Cloudman!«, flüstert mir das Mondkind zu.
Endorphina setzt sich ans Vogelklavier. Sie stimmt eine alte Melodie an und beschwört den Geist von Nina Simone herauf, damit er mir beisteht. Ihre Stimme klingt wie eine fröhliche Totenglocke, die rote Armee aus Kanarienvögeln setzt sich in Bewegung. Die Leinen zwischen mir und den Vögeln straffen sich, hundertsechsundzwanzig Flügelpaare, meines mitgerechnet, peitschen Wind über das Krankenhausdach. Die Vögel formieren sich zu zwei Schwärmen. Zweihundertfünfzig Melodien prallen aufeinander. Auch ich
Weitere Kostenlose Bücher