Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
ich komme hier nicht raus.«
»Ich habe ihn gestern besucht und ihm erklärt, dass du an deinen Superkräften arbeitest und bald wieder da bist.«
Endorphina umarmt mich. Abermals Plastikknistern. Eine fast beruhigende Stille tritt ein, nur durchbrochen von den Todesverzögerungsmaschinen. Meine gefiederte und ihre plastikverpackte Hand finden zueinander.
n den letzten Wochen haben die Rote Bete und die Metamorphose sich einen regelrechten Wettlauf geliefert. Mein Drang zu fliegen ist mittlerweile so übermächtig, dass ich manchmal mit dem Krankenhaus auf dem Rücken abheben könnte. Aber schon im nächsten Moment fühlt es sich an, als würde mir das ganze Gebäude auf die Wirbelsäule krachen. Die Rote Bete nutzt die Gelegenheit und gießt mir Beton zwischen die Knochen. Um ihr ein Schnippchen zu schlagen, zwitschere ich, bis mir der Kopf schwirrt und meine Arme zu Flügeln werden. Ich richte mich auf, stehe schwankend auf dem Bett und träume davon, zum Badezimmer zu fliegen, ohne den Boden zu berühren. Meine Flugversuche enden meist direkt vor dem Bett, und im Fallen reiße ich den Infusionsschlauch herunter wie eine Girlande. Gestern bin ich auf dem Linoleum eingeschlafen. Daraufhin hat Pauline gedroht, mich am Bett festzubinden. Ich bin brav wieder unter die Decke gekrochen, um sie zu besänftigen. Später habe ich dann gehört, wie sie sich auf dem Flur mit meiner Ärztin unterhalten hat. Frau Doktor besteht darauf, dass man mich schlafen lässt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal geweckt wurde.
»Hallo, Herr Cloudman. Hier ist jemand, der Sie sehen will.«
Es ist Victor mit seinem Rosenkranz aus Plastikschläuchen und den zu großen, wolkenverhangenen Augen. Ich strecke die Brust raus, breite die Arme aus und schicke mich an zu fliegen, werde aber von einem Hustenanfall geschüttelt. Statt abzuheben, breche ich auf dem Bett zusammen.
Pauline versucht sich an einem aufmunternden Lächeln. Die widersprüchlichen, wimpernumrahmten Gefühle in ihren Augen geben mir die Kraft, mich aufzusetzen. Victor wagt nicht, an mein Bett zu treten. Sein Blick ist leer, er scheint mich nicht wiederzuerkennen.
»Na los, Victor, nicht so schüchtern. Gib ihm dein Bild!«
Das Mondkind gehorcht stumm, mit gesenktem Kopf. Mechanisch streckt er mir ein Blatt Papier entgegen. Er macht ein Gesicht, als wäre der Besuch bei mir eine Strafe für ungezogenes Verhalten. Sein Bild zeigt ein großes gelbes Küken, zu dessen Füßen ein kleineres Küken hockt. Ich bedanke mich bei Victor, während Pauline das Bild über mein Bett hängt. Wieder tritt Schweigen ein.
»Was ist denn, Victor? Hast du die Sprache verloren? Du wolltest den Wolkenmann doch unbedingt sehen«, sagt Pauline und geht vor ihm in die Knie. Freundlich legt sie ihm die Hände auf die schmalen Schultern.
»Soll ich euch zwei vielleicht ein bisschen alleine lassen?«
Victor schüttelt den Kopf und starrt auf seine Schuhe. Ich komme mir vor wie ein todkranker Urgroßvater, den man besuchen muss, obwohl man sich vor ihm fürchtet.
Pauline wirft mir einen kurzen Blick zu, dann nimmt sie Victor an die Hand und geht mit ihm aus dem Zimmer. Die Tür schlägt zu. Aus meinem zerknitterten Schlafanzug kriecht ein Rest Stolz. Ich richte mich auf wie ein kaputter Regenschirm.
Wenn ich noch länger im Bett bleibe, werde ich mit dem Laken verschmelzen und mich statt in einen Vogel in ein Gespenst verwandeln. Also stehe ich auf und wanke ins Badezimmer, mein größtes Abenteuer an diesem Tag. Mit Mühe und Not erreiche ich das Waschbecken und ziehe mich daran hoch, damit ich in den Spiegel sehen kann. Dünne rote Federn bedecken meine Haut. Jemand hat Löcher in meine Wangen gegraben und meine Augen darin beerdigt. Ich erschrecke vor mir selbst. Ich lache-weine-schreie. Das kann nicht wahr sein! Der Spiegel muss manipuliert sein. Wie das Dreamoskop scheint er meine geheimsten Wünsche zu zeigen. Mein Spiegelbild sieht jedenfalls dem Foto von meinem Traum verblüffend ähnlich. In meinem Kopf regnet es. Ich bin in der Pubertät, bald werde ich als Vogel aus dem Ei schlüpfen. Ich kneife die Augen zusammen, erkenne unter den Federn meine Gesichtszüge wieder. Hoffnung blitzt auf, daran kann ich mich festhalten. Ich will mir gut zureden, aber meine Stimmbänder reagieren in letzter Zeit immer gereizter auf Sprechversuche. Sie pfeifen, krächzen, zirpen. Das Badezimmer dient mir als Übungsraum, die Töne hallen von den Wänden wider. Ich blicke abermals in
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