Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Art Leuchtturm im Nebel. Vater werden.
Die Erinnerung an den Mann, der ich einmal war, verblasst wie ein altes Foto. Ich bemühe mich, sie festzuhalten, damit ich Victor keine Angst mache. Pauline hat ihn heute Nachmittag zu mir gebracht. Er schenkt mir sein Spiderman-Kostüm, und ich ziehe es an, obwohl ich mich nackt in meinen Federn wohler fühle. Im Gegenzug schenke ich ihm mein altes Stuntman-Kostüm. Seine Augen strahlen, als er hineinschlüpft, und erleuchten meinen Tag. Pauline geht völlig in der Rolle der Pauline auf, sie plaudert mit mir über Banalitäten.
»Alle haben Frau Doktor Cuervo im Verdacht, dich entführt zu haben. Eine Hilfsschwester hat uns neulich gesehen, aber sie verrät uns nicht. Sie schämt sich, weil sie nicht gegen deinen Rauswurf protestiert hat, das hat sie mir erzählt. Alle wissen es, aber sie schweigen.« Ich glaube, Pauline muss sich an etwas Bodenständigem festhalten, die Schwelle zum Himmel macht ihr Angst.
Tage und Nächte vergehen. Die Rote Bete erinnert mich daran, dass ich immer noch ein Mensch bin, sie malträtiert mich stundenlang. Von Zeit zu Zeit rupft sie mir ein paar Federn aus. Endorphina wendet den Blick ab, wenn sie eine der Federn aufhebt. Victor tut so, als wisse er nicht, was hier gespielt wird. Jeder will den anderen schonen. Meine Vogelfrau bewältigt ihr Doppelleben und meins erstaunlich gut. Aber sie ist jetzt ständig müde, sie hat ein Kind im Bauch und ein anderes am Hals. Jeden Abend beobachte ich, wie Frau Doktor Cuervo in ihrem eiförmigen Häuschen verschwindet und als Vogelfrau wieder herauskommt, als wäre sie nur kurz duschen gewesen. Das sind die schönsten Momente des Tages. Wir lassen uns treiben, denken nicht mehr nach und schweben manchmal sogar dicht über dem Boden.
Seit einigen Tagen bin ich kleiner als das Mondkind. Bald werde ich mich in Endorphinas Bauch, diesem verheißungsvollen Nest, verkriechen können. Mir fällt es immer schwerer, Wörter zu bilden, allein die Vorstellung zu sprechen ermüdet mich.
Ich kann nicht mehr stehen und nicht mehr schreiben. Meine Finger sind keine Finger mehr. Stoff an meinem Körper zu spüren, ist mir unerträglich. Man hebt mich hoch und herzt mich wie eine Puppe, ein Teil von mir kann sich nicht daran gewöhnen. Eine Frage spukt mir durch den Kopf und macht mir solche Angst, dass ich sie immer wieder verscheuche. Wenn alles an mir schrumpft, gilt das dann auch für mein Gehirn?
Die Vogelfrau nimmt meinen winzigen Körper und drückt meinen Kopf gegen ihren runden Bauch. Ich spüre Bewegungen und höre entfernte Geräusche wie vom Meeresgrund. »Vielleicht … wird es ja … eine Sirene.« Ich bin mittlerweile nicht größer als ihr Bauch.
»Vielleicht wird es ja eine Sirene«, waren Tom Cloudmans letzte Worte. Seit er heute Morgen aufgewacht ist, zwitschert er nur noch. Sein Gesang klingt traurig. Er weiß, dass er nicht mehr sprechen kann, er hat es verlernt. Ich bin die Einzige, die ihn jetzt noch verstehen kann.
Am liebsten würde ich mir eine Dosis tödliches Gift spritzen. Die Frau in mir würde sterben und der Vogel endgültig an ihre Stelle treten. Die Metamorphose ginge ganz schnell und wäre unwiderruflich. Ich müsste nur eine Infusionspumpe aus dem Keller stehlen. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit würde ich mir eine Nadel in den Arm schieben und mich an Toms kleinen gefiederten Körper schmiegen. Das Gift würde sein gnädiges Werk verrichten, und bei Anbruch des Tages würden wir gemeinsam über den Wolken fliegen.
Während ich mich diesem tröstlichen Gedanken hingebe, wandern meine Hände unwillkürlich zu meinem Bauch und umfangen ihn. Toms Metamorphose zieht mich in himmlische Höhen, aber mein Bauch hält mich am Boden. Ich habe schon immer auf dem schmalen Grat zwischen Tag und Nacht, Himmel und Erde balanciert. Ein ständiger Wechsel, ein Gleichgewicht, eine ewige Bewegung, die mir als Mischwesen auferlegt ist. Gegen Ende meiner Pubertät hätte ich mein Menschenleben fast aufgegeben, so stark waren meine tierischen Instinkte. Als ich älter wurde, lernte ich sie dann besser kennen. Bis vor Kurzem lebten die Menschenfrau und das Vogelweibchen in Harmonie. Aber nach den Ereignissen der letzten Zeit ist es damit vorbei.
Ich hole Victor regelmäßig zu mir in die Voliere. Er nimmt Tom und setzt ihn sich auf die Schulter. Dann sieht er aus wie ein Piratenjunge, der seinem Papagei ein Geheimnis ins Ohr flüstert. Wenn Tom leise tschilpt, nickt Victor ernst oder lacht. Er tut
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