Metamorphose am Rande des Himmels: Roman (German Edition)
Weile sind ihre Atemzüge lauter als ihre Worte. Ich schaue ihr beim Einschlafen zu. Auch mir fallen die Augen zu, aber ich will keine Minute dieses Schauspiels verpassen. Ihr Atem lässt das Federmeer auf und ab wogen, ihre Wimpern zittern wie die Nadel eines Seismografen. Die Gesichtsmuskeln zucken unmerklich, neben dem Mundwinkel entdecke ich ein unwiderstehliches Grübchen. Ich möchte sie küssen, sie mit Haut und Haar auffressen. Stattdessen fotografiere ich sie. Nur der Mond erhellt ihr Gesicht, ich wähle eine lange Belichtungszeit. Draußen recken die Vögel ihre Schnäbel in die Sterne und singen ein getragenes Lied. Ich höre, wie sie sich aufplustern, das Rascheln ihrer Flügel lässt mich erschauern. Bald wird es Tag, und niemand weckt mich.
Der Duft frischer Minze steigt mir in die Nase. Ich stöpsle den Tropf aus und klettere schwerfällig aus meinem Nest. Meine Füße gleiten über den watteweichen Boden. Nebel filtert die Lichter, ohne sie zu verschlucken. Endorphinas Vögel baden in den Wolken und landen zu meinen Füßen. Am Himmel ziehen unsichtbare Frauen an ihren Zigaretten, glühende Punkte in der Dunkelheit, die wir Sterne nennen. Diese himmlischen Sirenen scheinen mir Lichtsignale zu geben. Sie spornen mich zum Fliegen an. Endorphina hat gesagt, dass ich noch warten muss, dass meine Flügel noch nicht lang genug sind, dass ich ohne die Rettungsvögel einen Absturz riskiere. In der Ferne malt ein Schwarm Zugvögel den Wolken einen Dreitagebart. Ihre Freiheit hypnotisiert mich. Sie brauchen zum Fliegen keine Rettungsleinen. Die Leere zieht mich an. Die Vögel stoßen zu mir herab, sie magnetisieren mein Gefieder.
Ich springe ohne Rettungsleinen in den Himmel. Rasch verliere ich an Höhe und falle durch den Schwarm hindurch. Vogelaugen blicken mich überrascht an. Ich rase die Stockwerke des Himmels hinab, fühle mich dabei aber rundum wohl. Meine Augen zoomen zum Boden. Der Wind pfeift, ich werde immer schneller. Der Krankenhausparkplatz, der vor wenigen Sekunden noch eine unscharfe Briefmarke gewesen ist, hat jetzt schon Spielzeuggröße. Ein Schauer läuft mir über die Wirbelsäule, ein letztes Warnsignal. Ich will es nicht hören. Der Wind wechselt die Tonlage.
Eine Hand packt mich fest am Nacken und zieht mich in die Höhe. Der Parkplatz wird wieder kleiner. Dann werde ich sanft in meinem Nest abgesetzt.
»Du bist … noch nicht … so weit«, keucht Endorphina.
»Ich liebe es, wenn du mich rettest.«
»Ich auch, aber ich bin nicht unfehlbar. Bald wirst du ein richtiger Vogel sein und mit eigenen Flügeln fliegen. Aber wenn du dich Hals über Kopf vom Dach stürzt, bevor du wirklich fliegen kannst, überleben weder der Mensch noch der Vogel in dir.«
Sie verstummt. Dann fügt sie leise hinzu:
»Am liebsten würde ich die Zeit anhalten, damit du noch eine Weile so bleibst, halb Mensch, halb Vogel. Damit du noch eine Weile bleibst …«
ie ersten Sonnenstrahlen verunstalten die Voliere. Die Vogelfrau verschwindet in ihrem eiförmigen Häuschen. Wenig später kommt sie als Menschenfrau wieder heraus, gekleidet in ihren blauen Sack.
»Jetzt hätte ich dich nicht mehr auffangen können. Sobald es hell wird, kann ich nicht mehr fliegen. Tagsüber fahre ich selbst auf dem Fahrrad nur im ersten Gang, weil mir sonst schwindelig wird. Also halte dich von der Schwelle zum Himmel fern. Und auf keinen Fall darfst du mehr deine Infusion ausstecken. Du musst mir dabei helfen, dir zu helfen. Kannst du das?« Sie steckt sich das Haar hoch wie eine Tänzerin, küsst mich und entschwindet die Treppe hinunter in die Tagwelt.
Mein Gewissen sendet ein Notsignal. Ich würde Endorphina ja gern helfen, mir zu helfen, aber ein Teil von mir entzieht sich mehr und mehr meiner Kontrolle. Die Herrschaft der Vernunft ist endgültig vorbei, jetzt regieren meine Triebe. Ich vernehme den Gesang der himmlischen Sirenen nun auch schon am Tag und verstehe ihn mittlerweile besser als die Stimmen der Menschen. Zugvögel höre ich, bevor ich sie sehe, ich singe unwillkürlich mit ihnen mit. Sie rufen nach mir. Jede Sekunde ist ein neues Leben. Ich weiß nicht mehr, was Zeit ist und was Abwarten bedeutet. Ich schlage leicht mit den Flügeln, achte aber darauf, der Schwelle zum Himmel nicht zu nah zu kommen. Manchmal hebe ich für ein paar Augenblicke vom Boden ab. Ich versuche, an etwas anderes als ans Fliegen zu denken, aber das geht nicht. Ich fotografiere die Wolken, um mich zu beruhigen. Ein Licht blitzt auf, eine
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