Metro 2034
Dass mich jemand hört. Und ich es einfach noch nicht verdient habe, dass mir jemand öffnet.«
»Und das genügt dir?« Wieder zuckte der Musiker mit den Schultern. »Es hat der ganzen Welt immer genügt - also genügt es auch mir.«
Homer lief auf den Bahnsteig und blickte sich verwirrt um - Hunter war nirgends zu sehen. Hinter ihm rollte Melnik aus dem Untersuchungsgefängnis heraus, grau und niedergeschlagen, als hätte er dem Brigadier gleichzeitig mit der rätselhaften Marke seine Seele vermacht.
Warum war Hunter fortgelaufen und wohin? Warum hatte er Homer zurückgelassen? Melnik würde er nicht danach fragen; vielmehr musste er zusehen, dass er ihm aus dem Weg ging, bevor dieser sich an ihn erinnerte. Also tat Homer so, als wollte er den Brigadier einholen und schritt eilig davon, jeden Moment auf einen Zuruf von hinten gefasst. Doch Melnik schien sich nicht mehr für ihn zu interessieren.
Hunter hatte Homer gesagt, er brauche ihn, damit er sein früheres Ich nicht vergaß. Hatte er gelogen? Vielleicht hatte er nur vermeiden wollen, dass er in seiner Raserei einen Kampf an der Polis vom Zaun brach, den er durchaus verlieren konnte -und das hätte ihm den Weg zur Tulskaja versperrt. Sein Gespür und sein Killerinstinkt waren übernatürlich, doch nicht einmal er konnte es wagen, allein eine ganze Station zu stürmen. Wenn das stimmte, dann hatte Homer seine Rolle gespielt, indem er Hunter bis zur Polis begleitet hatte, und war nun unsanft von der Bühne gestoßen worden.
Somit war auch er am Ausgang der Geschichte beteiligt; er hatte seinen Teil dazu beigetragen, dass das Finale genauso wurde, wie es sich der Brigadier -oder derjenige, der seine Rolle spielte - ausgedacht hatte.
Was war das für eine Marke? Ein Passierschein? Ein Insignium der Macht? Ein schwarzes Mal? Ein Ablass im Voraus - für all die Sünden, die Hunter so unbedingt auf seine Seele laden wollte? Wie auch immer: Der Brigadier hatte Melnik die Marke und sein Einverständnis entrissen.
Endlich hatte er freie Hand. Und er hatte sicher nicht vor, irgendwem zu beichten - das, was da in ihm die Oberhand gewonnen hatte, das Ungeheuer, das ihm bisweilen im Spiegel erschien, konnte nicht einmal richtig sprechen.
Was würde an der Tulskaja geschehen, wenn Hunter bis dorthin durchkam? Würde er seinen Durst stillen können, indem er eine ganze Station in Blut tränkte, ja vielleicht sogar zwei oder drei?
Oder würde das, was er da in sich austrug, dadurch erst ins Unermessliche wachsen?
Welchen der beiden Hunters hatte Homer eigentlich bis hierher begleitet? Denjenigen, der die Menschen verschlang, oder den, der das Monster bekämpfte? Welcher der beiden war in dem Phantom-Zweikampf an der Poljanka zu Boden gegangen? Und wer hatte danach Homer um Hilfe gebeten?
Ja, vielleicht hatte Homer eine ganz andere Bestimmung: ihn zu töten. Waren es womöglich jene kläglichen Überreste des alten Brigadiers, die in ihrer Verzweiflung den Alten als Begleiter angefordert hatten, damit dieser alles mit eigenen Augen sah und Hunter vor Entsetzen oder aus Mitleid irgendwo in einem dunklen Tunnel mit einem Genickschuss kaltmachte? Selbst konnte sich der Brigadier das Leben nicht nehmen, also hatte er sich einen Henker gesucht. Einen Henker, den man um nichts bitten musste, der über genügend Intuition verfügte, um alles von selbst zu begreifen, und geschickt genug war, den anderen Hunter zu betrügen - den zweiten, der mit jedem Tag immer monströser wurde und nicht sterben wollte.
Doch selbst wenn Homer den Mut hatte, den richtigen Moment abpasste und Hunter hinterrücks ermordete, was würde das bringen? Die Seuche würde er allein nicht aufhalten können. Blieb ihm dann also trotz aller Dringlichkeit nichts anderes, als weiter zu beobachten und aufzuschreiben?
Homer ahnte, wohin sich der Brigadier begeben hatte. Dieser schon fast mythische Orden, dem offenbar sowohl Melnik als auch Hunter angehörten, hatte laut Gerüchten seine Basis an der Smolenskaja, dem Unterbauch der Polis.
Seine Legionäre schützten die Metro und ihre Bewohner vor jenen Gefahren, mit denen ganze Armeen gewöhnlicher Stationen nicht fertig wurden. Mehr wusste man über diese geheimnisvolle Organisation nicht.
Der Alte durfte nicht einmal daran denken, die Smolenskaja zu betreten - sie war unzugänglich wie die Festung Alamut. Doch wozu auch: Um den Brigadier wiederzusehen, musste Homer einfach nur an die Dobryninskaja zurückkehren. Und warten, bis Hunters Bestimmung ihn
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