Metro 2034
Sommerregen, ausgeschnitten aus einem alten Hochglanz-Almanach. Vor langer Zeit, als Homer noch durch die Metro streifte, bestand sein gesamtes Vermögen aus seiner Kleidung und dieser einen Aufnahme.
Andere trugen in der Tasche zerknitterte Seiten mit hüllenlosen Schönheiten, die sie aus Männermagazinen herausgerissen hatten, doch für Homer war das kein würdiger Ersatz. Dieses Foto hingegen erinnerte ihn an etwas unendlich Wichtiges, unaussprechlich Schönes. und für immer Verlorenes.
Unbeholfen flüsterte er: »Verzeih«, trat auf den Gang hinaus, schloss vorsichtig die Tür hinter sich und ging entkräftet in die Hocke. Bei den Nachbarn stand die Tür offen, und auf der Schwelle spielten zwei kränklich blasse Kinder
ein Junge und ein Mädchen. Als sie Homer erblickten, hielten sie inne. Der geflickte, mit Lumpen ausgestopfte Teddybär, um den sie sich eben noch gestritten hatten, fiel zu Boden. Die Kinder stürzten auf Homer zu und riefen: »Onkel Kolja, Onkel Kolja!Erzähl uns was!Du hast versprochen, dass du uns was erzählst, wenn du zurückkommst!«
Homer konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Augenblicklich vergaß er den Streit mit Jelena, strich dem Mädchen über die spärlichen blonden Haare und drückte dem Jungen mit ernstem Blick die kleine Hand. »Worüber denn?«
»Kopflose Mutanten!«, schrie der Bengel fröhlich.
»Nein!Ich will keine Mutanten!«, sagte das Mädchen erschrocken. »Die sind so furchtbar, ich hab Angst!« Homer seufzte. »Was willst du für eine Geschichte, Tanjuscha?« Aber der Junge kam ihr zuvor: »Dann über die Faschisten!Oder die Partisanen!« »Nein. Ich will die Geschichte von der Smaragdenen Stadt«, sagte Tanja und verzog den Mund zu einem zahnlückigen Lächeln. »Aber die habe ich euch doch schon gestern erzählt. Vielleicht doch lieber die vom Krieg der Hanse gegen die Roten?« »Von der Smaragdenen Stadt, von der Smaragdenen Stadt!«, riefen beide.
»Na schön«, lenkte Homer ein. »Irgendwo weit, weit am Ende der Sokolnitscheskaja-Linie, hinter sieben verlassenen Stationen, drei eingestürzten Metrobrücken und tausend mal tausend Schwellen liegt eine geheimnisvolle, unterirdische Stadt. Sie ist verzaubert, und gewöhnliche Menschen können sie nicht betreten. Es leben Magier darin, und nur sie können die Stadt durch ihre Tore verlassen und auch wieder dorthin zurückkehren. Darüber, an der Oberfläche, erhebt sich ein riesiges Schloss mit Türmen, in dem die weisen Magier einst lebten. Dieses Schloss hieß .«
»Wirsität!«, rief der kleine Junge und blickte seine Schwester triumphierend an.
»Universität.« Homer nickte. »Als der große Krieg begann und Atomraketen auf die Erde fielen, zogen sich die Magier in ihre Stadt zurück und verzauberten den Eingang, damit die bösen Menschen, die den Krieg begonnen hatten, nicht zu ihnen gelangen konnten. Und sie leben .« Er räusperte sich und verstummte.
Jelena stand da, an den Türrahmen gelehnt. Sie hörte zu. Er hatte gar nicht bemerkt, wie sie im Gang erschienen war. »Ich packe dir deine Sachen«, sagte sie heiser. Homer ging zu ihr und nahm ihre Hand. Ungeschickt umarmte sie ihn - es war ihr peinlich vor den Kindern - und fragte leise: »Kommst du bald zurück? Dir wird doch nichts passieren?« Zum tausendsten Mal in seinem ganzen langen Leben stellte Homer verwundert fest, wie sehr sich die Frauen nach Versprechungen sehnten - egal, ob sie erfüllbar waren oder nicht. »Alles wird gut.« »Ihr seid schon so alt und küsst euch noch, als hättet ihr gerade geheiratet«, sagte das Mädchen und schnitt eine Grimasse, und der Junge rief ihnen frech nach: »Papa sagt, das stimmt alles nicht. Es gibt gar keine Smaragdene Stadt.« »Mag sein.« Homer zuckte mit den Schultern. »Es ist ein Märchen. Aber was würden wir ohne Märchen tun?« Die Verbindung war tatsächlich schlecht. Durch ein furchtbares Knistern und Rauschen kämpfte sich eine Stimme, die Istomin entfernt bekannt vorkam: Es war offenbar einer der Aufklärer aus der Troika, die sie zur Serpuchowskaja geschickt hatten.
»An der Tulskaja. Wir können. Tulskaja.«, versuchte der Mann durchzugeben. »Verstanden, ihr seid an der Tulskaja!«, schrie Istomin in den Hörer. »Was ist passiert? Warum kommt ihr nicht zurück?« ».Tulskaja. Hier. dürft nicht. Alles, nur nicht .« Immer wieder wurden die Sätze von Sendestörungen unterbrochen. »Was dürfen wir nicht? Wiederhole, was dürfen wir nicht?« »Nicht stürmen!Auf keinen Fall
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