Metro 2034
dass sie die Begnadigung abgelehnt hatte, gab ihr nur noch mehr Kraft.
Was zum Teufel? Warum waren sie erneut hier gelandet? Homer versuchte fieberhaft eine Erklärung für das Geschehene zu finden.
Plötzlich verstummte Achmed; er hatte erblickt, wohin Homer mit seiner Lampe leuchtete. »Sie lässt mich nicht fort.«, murmelte er tonlos, fast unhörbar.
Der Dunst um sie herum verdichtete sich so sehr, dass sie einander kaum sahen. Ohne Menschen war die Nagornaja gleichsam in einen Dornröschenschlaf gefallen. Doch nun erwachte sie zu neuem Leben: Die schwere Luft reagierte auf ihre Worte mit unmerklichen Schwankungen, undeutliche Schatten regten sich in der Tiefe. Und keine Spur von Hunter . Ein Wesen aus Fleisch und Blut kann den Kampf gegen Phantome nicht gewinnen; sobald die Station genug gespielt hatte, umschlang sie es mit ihrem ätzenden Atem und verdaute es bei lebendigem Leibe.
»Geh«, presste Achmed hervor. »Sie will mich. Du kannst das nicht wissen. Du bist zu selten hier.« »Hör auf mit dem Quatsch!«, bellte ihn Homer an, überrascht von der eigenen Lautstärke. »Wir haben uns nur im Nebel verirrt. Gehen wir zurück!« »Wir können nicht weg. Du kannst laufen so viel du willst, du wirst immer hierher zurückkehren, wenn du bei mir bleibst. Allein kommst du durch. Geh, ich bitte dich.« »Schluss jetzt!« Homer packte Achmeds Hand und zog ihn hinter sich her zum Tunnel. »In einer Stunde wirst du mir auf Knien danken!«
»Richte meiner Frau aus .« Eine unglaubliche, ungeheuerliche Kraft entriss Achmeds Hand Homers Griff - nach oben, in den Nebel, ins Nichts.
Er schaffte es nicht einmal mehr zu schreien, sondern verschwand einfach, als wäre er von einem Augenblick zum anderen in einzelne Atome zerfallen, als hätte er nie existiert. Dafür brüllte Homer los, drehte sich wie ein Irrer um die eigene Achse und vergeudete seine wertvollen Patronen Magazin für Magazin. Und dann spürte er plötzlich einen heftigen Schlag im Genick, wie ihn nur einer dieser Dämonen austeilen konnte, und das Universum fiel in sich zusammen.
5 - ERINNERUNGEN
Sascha lief zum Fenster und stieß die Läden auf. Frische Luft und sanftes Licht drangen herein. Die Fensterbank aus Holzbrettern hing direkt über einem Abgrund, aus dem ein sanfter Morgennebel aufstieg. Mit den ersten Sonnenstrahlen würde sich dieser auflösen, und dann würde sie aus ihrem Fenster nicht nur die Schlucht, sondern auch die kiefernbewachsenen Ausläufer in der Ferne und die grünen Wiesen dazwischen erblicken, die im Tal verstreuten, streichholzschachtelgroßen Häuser und die hülsenförmigen Glockentürme. Der frühe Morgen war ihre Zeit. Sie spürte den nahenden Sonnenaufgang und stand eine halbe Stunde vorher auf, um noch rechtzeitig auf den Berg zu kommen. Hinter der kleinen, einfachen, aber blitzblank geputzten, warmen und wohnlichen Hütte wand sich ein felsiger Pfad den Hang hinauf, gesäumt von hellgelben Blumen. Das lockere Gestein bröckelte unter den Füßen, und es kam vor, dass Sascha in den wenigen Minuten bis zum Gipfel mehrmals ausrutschte und sich dabei die Knie aufschürfte.
Nachdenklich wischte Sascha mit dem Ärmel über die Fensterbank, die noch feucht war vom Atem der Nacht. Sie hatte von etwas Düsterem, Unheilvollem geträumt, das ihr jetziges, sorgloses Leben durchkreuzte, doch die Reste dieser unruhigen Visionen lösten sich sogleich auf, als der kühle Wind leicht über ihre Haut zu streichen begann. Jetzt hatte sie keine Lust mehr, darüber nachzudenken, was sie im Traum so sehr bedrückt hatte. Sie musste sich sputen, um rechtzeitig auf den Gipfel zu kommen, die Sonne zu begrüßen und dann, den Pfad hinunterrutschend, zurückzueilen, das Frühstück zu machen, ihren Vater zu wecken und ihm etwas Proviant einzupacken.
Dann würde Sascha den ganzen Tag, während er auf der Jagd war, sich selbst überlassen sein und bis zum Abendessen die schwerfälligen Libellen und fliegenden Kakerlaken zwischen den Wiesenblumen jagen, deren Blüten so gelb waren wie die Linkrusta-Tapeten in den Zügen.
Auf Zehenspitzen schlich sie über die knarzenden Dielen, öffnete die Tür ein wenig und lachte leise vor sich hin.
Es war einige Jahre her, seit Saschas Vater zuletzt ein so glückliches Lächeln auf dem Gesicht seiner Tochter gesehen hatte. Er wollte sie auf keinen Fall wecken. Sein Fuß war angeschwollen und taub, die Blutung wollte einfach nicht aufhören. Man sagte, dass der Biss eines streunenden Hundes nie
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