Metro 2034
Willen, er mochte es nicht gern, wenn man ihn herumkommandierte. Und nun hatte ihm das Tagebuch eine konkrete Frist genannt: Von der Infektion bis zum Tod waren es nur ein paar Wochen. Und selbst wenn es ein ganzer Monat war: Wie viel hatte er noch zu erledigen in diesen mickrigen dreißig Tagen!
Was sollte er tun? Seinen Begleitern gestehen, er sei krank, und an die Kolomenskaja zurückkehren, um dort zu sterben -wenn schon nicht an der Seuche, so vor Hunger oder an der Strahlung? Andererseits: Wenn er die furchtbare Krankheit bereits in sich trug, so waren Hunter und das Mädchen, die dieselbe Luft geteilt hatten, mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls infiziert. Vor allem der Brigadier, schließlich hatte er an der Tulskaja mit den Wachleuten gesprochen, war also besonders nahe an sie herangekommen.
Oder sollte er darauf hoffen, dass die Krankheit ihn verschonte, sie verheimlichen und abwarten? Natürlich nicht einfach so, sondern um die Reise mit Hunter fortzusetzen. Damit der Wirbel der Ereignisse, der ihn ergriffen hatte, nicht nachließ und er weiterhin daraus seine Inspiration schöpfen konnte. Denn wenn Nikolai Iwanowitsch, dieser betagte, nutzlose Bewohner der Sewastopolskaja, dieser ehemalige Hilfszugführer, diese von der Schwerkraft an die Erde gefesselte Raupe, durch die Entdeckung des verfluchten Tagebuchs umkam, so würde Homer, der Chronist und Mythenschöpfer, dadurch umso herrlicher als -wenn auch kurzlebiger
Schmetterling ans Licht kommen. Vielleicht war ihm nun endlich jene Tragödie gesandt worden, die der Feder eines Großen würdig war, und es hing nur von ihm ab, ob er sie in den dreißig Tagen, die ihm dafür gegeben waren, auf dem Papier zum Leben erwecken konnte.
Hatte er das Recht, diese Chance ungenutzt zu lassen?
Hatte er das Recht, sich in einen Eremiten zu verwandeln, seine Legende zu vergessen, freiwillig auf wahre Unsterblichkeit zu verzichten und damit auch all seine Mitmenschen ihrer zu berauben? Was wäre das größere Verbrechen, die größere Dummheit: die Pestfackel durch die halbe Metro zu tragen oder die Manuskripte mitsamt seiner selbst zu verbrennen?
Ruhmsüchtig und kleinmütig wie er war, hatte Homer bereits seine Wahl getroffen und suchte nur noch nach Argumenten dafür. Was brachte es, sich an der Kolomenskaja wie in einer Gruft neben zwei Leichen lebendig mumifizieren zu lassen? Für Heldentaten war er nicht geschaffen.
Wenn die Kämpfer der Sewastopolskaja bereit waren, an der Tulskaja in den sicheren Tod zu gehen, so war das ihre eigene Entscheidung. Sie starben wenigstens nicht einsam. Aber was für einen Sinn hatte es, wenn Homer sich opferte? Hunter würde er sowieso nicht aufhalten können. Der Alte hatte die Seuche mit sich herumgetragen, ohne zu wissen, was er tat -Hunter jedoch wusste seit der Tulskaja genau Bescheid. Kein Wunder, dass er auf der völligen Vernichtung aller Bewohner der Station bestanden hatte, einschließlich der Sewastopoler Karawane. Und kein Wunder, dass er unbedingt Flammenwerfer einsetzen wollte. Wenn sie aber beide bereits infiziert waren, würde die Epidemie unausweichlich auch die Sewastopolskaja treffen.
Und dort zunächst die Menschen, in deren Nähe sie sich aufgehalten hatten. Jelena. Den Stationsvorsteher. Den Kommandeur der Außenposten. Die Adjutanten. Somit würde die Station in drei Wochen keine Führung mehr haben, Chaos würde ausbrechen, und schließlich die Seuche alle anderen dahinraffen.
Aber warum war Hunter an die Sewastopolskaja zurückgekehrt, wenn er wusste, dass er sich vielleicht auch angesteckt hatte? Allmählich wurde Homer klar, dass der Brigadier nicht intuitiv gehandelt, sondern Schritt für Schritt einen bestimmten Plan verfolgt hatte. Doch dann hatte der Alte die Karten neu gemischt.
War also die Sewastopolskaja zum Untergang verdammt, und hatte ihre Expedition keinen Sinn mehr? Selbst wenn Homer nach Hause hätte zurückkehren wollen, um im Tod mit Jelena vereint zu sein, es war unmöglich. Allein der Weg von der Kachowskaja zur Kaschirskaja hatte ausgereicht, um ihre Atemschutzmasken unbrauchbar zu machen, und auch ihre Schutzanzüge, die Dutzende, vielleicht Hunderte Röntgen abbekommen hatten, mussten sie schleunigst loswerden. Was sollte er nun tun?
Das Mädchen hatte sich zusammengerollt und schlief. Das Lagerfeuer hatte endlich das verseuchte Tagebuch und die letzten Zweige verschlungen und war ausgegangen. Um die Batterien seiner Lampe zu schonen, beschloss Homer so lange wie möglich
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