Metro 2034
»Lasst ihn in Ruhe!Das ist er nicht!«, schrie Sascha. »Verschwindet!« Die Stimme des Mannes mit dem Sturmgewehr war eiskalt. »Oder wir.« »Auf das Mädchen?«, fragte eine zweite Stimme unsicher. »He, hörst du schlecht?« Sie vernahmen deutlich, wie die Gewehre entsichert wurden. Sascha wich zurück und presste die Augen zusammen.
Zum dritten Mal innerhalb weniger Stunden stand sie dem Tod gegenüber. Dann hörte sie ein kurzes, leises Pfeifen. In der anschließenden Stille wartete sie vergeblich auf den letzten Befehl. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus und öffnete ein Auge.
Der Motor rauchte noch immer. Blaugraue Wolken schwammen durch den weißen Strahl des Scheinwerfers, der aus irgendeinem Grund nach oben gekippt war. Nun, da der Lichtstrahl sie nicht mehr blendete, konnte Sascha die Leute erkennen, die sich auf der Draisine befanden.
Diese lagen wie zusammengeklappte Puppen auf dem Wagen oder auf den Gleisen daneben. Willenlos herabhängende Arme, unnatürlich verdrehte Hälse, eingeknickte Rümpfe.
Sascha wandte sich um. Hinter ihr stand der Kahle. Er hielt seine Pistole gesenkt und beobachtete aufmerksam die Draisine, die nun eher einem Fleischerbrett ähnelte. Dann riss er den Lauf erneut hoch und drückte noch einmal ab.
»Das war's«, sagte er dumpf, aber zufrieden. »Nehmt ihnen die Uniformen und die Gasmasken ab.« »Warum?« Das Gesicht des Alten war verzerrt vor Schreck. »Wir müssen uns umziehen. Wir nehmen ihre Draisine, um durch die Awtosawodskaja zu kommen.«
Sascha starrte den Killer an. In ihr wogten Angst und Begeisterung gegeneinander, Abscheu mischte sich mit Dankbarkeit. Er hatte soeben mit leichter Hand drei auf einen Streich erledigt und damit auch das wichtigste Gebot ihres Vaters verletzt. Aber er hatte es getan, um ihr -nun ja, und dem Alten -das Leben zu retten. War es ein Zufall, dass er dies nun schon zum zweiten Mal hintereinander tat?
Konnte es sein, dass sie Grausamkeit und Strenge miteinander verwechselte? Eines wusste sie genau: Die Furchtlosigkeit dieses Mannes ließ sie seine Hässlichkeit vergessen .
Der Kahle ging als Erster zur Draisine und begann den erlegten Feinden die Gummiskalps abzureißen. Plötzlich schrak er mit einem dumpfen Schrei zurück, als habe er den Teufel selbst erblickt, hielt beide Hände vor sich und wiederholte mehrmals: »Ein Schwarzer!«
9 - LUFT
Angst und Entsetzen sind keineswegs ein und dasselbe. Angst treibt an, zwingt zum Handeln, macht erfinderisch; Entsetzen lähmt Körper und Gedanken, nimmt dem Menschen alles Menschliche. Homer hatte in seinem Leben schon genug gesehen, um den Unterschied zwischen beidem zu kennen. Angst war dem Brigadier fremd, aber Entsetzen konnte sich seiner offenbar doch bemächtigen. Nicht das war es jedoch, was Homer verwunderte, sondern vielmehr, was in Hunter diese Empfindung ausgelöst hatte.
Die Leiche hinter der Gasmaske hatte tatsächlich ein ungewöhnliches Äußeres. Unter dem schwarzen Gummi war eine dunkle, schimmernde Haut zum Vorschein gekommen, wulstige Lippen, eine breite, etwas gestauchte Nase.
Homer hatte, seit es das Fernsehen mit seinen Musikkanälen nicht mehr gab, also seit über zwanzig Jahren, keine Menschen mit dunkler Hautfarbe mehr gesehen. Doch dass der Tote ein Afroamerikaner war, erkannte er sofort. Eine Seltenheit, ganz sicher. Aber was war daran so furchterregend?
Der Brigadier hatte sich bereits wieder in der Gewalt - der seltsame Anfall hatte nicht einmal eine Minute gedauert. Er beleuchtete das flache Gesicht, knurrte etwas Unverständliches und begann die widerspenstige Leiche mit groben Bewegungen zu entkleiden. Homer hätte schwören können, dass er hörte, wie dabei einige Fingerknochen brachen.
»Die wollen mich wohl verhöhnen. Mit schönen Grüßen, was? . Und das hier, ist das etwa menschlich? So eine Strafe.«, murmelte Hunter heiser.
Hatte er die Leiche mit jemandem verwechselt? Verstümmelte er den Toten aus Rache für die soeben erfahrene Erniedrigung, oder war da eine ältere und ernsthaftere Rechnung zu begleichen? Während Homer, seinen Ekel unterdrückend, der anderen Leiche - an der nichts Ungewöhnliches war - die Kleider abzog, blickte er immer wieder verstohlen zu dem Brigadier hinüber.
Das Mädchen beteiligte sich nicht an dieser Fledderung, und Hunter ließ sie in Ruhe. Sie saß in einiger Entfernung auf den Gleisen, das Gesicht in den Händen verborgen. Homer glaubte zu hören, dass sie weinte. Schließlich warf Hunter die Leichen
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