Metro 2034
draußen vor dem Tor auf einen Haufen. In nicht einmal vierundzwanzig Stunden würde von ihnen nichts mehr übrig sein. Tagsüber wurde die Stadt von solch furchterregenden Kreaturen beherrscht, dass sich selbst die bedrohlichen Raubtiere der Nacht in ihre Höhlen zurückzogen und ohne Murren auf ihre Stunde warteten. Das fremde, noch immer frische Blut war auf der dunklen Uniform zwar nicht zu sehen, doch klebte es kalt an Bauch und Brust, als ob es zurückwollte in einen lebendigen Organismus. Es erzeugte einen ekligen Reiz auf der Haut und im Verstand.
Homer fragte sich, ob diese Maskerade unbedingt notwendig war. Er tröstete sich damit, dass sie dadurch wenigstens weitere Opfer an der Awtosawodskaja vermeiden würden. Wenn Hunters Rechnung aufging, würde man sie ungehindert durchlassen, sie für Einheimische halten. Doch was, wenn nicht? Hatte er überhaupt die Absicht, so wenig überflüssige Opfer zu hinterlassen wie möglich?
Der Blutdurst des Brigadiers widerte Homer an, faszinierte ihn allerdings auch. Nicht einmal ein Drittel seiner Morde ließ sich mit Selbstverteidigung rechtfertigen, und doch steckte dahinter mehr als der übliche Sadismus. Vor allem aber quälte den Alten eine Frage: Hatte sich Hunter am Ende nur deshalb zur Tulskaja aufgemacht, um seinen Blutdurst zu befriedigen?
Die Unglücklichen, die an jener Station in eine Falle geraten waren, hatten vielleicht kein Mittel gegen das geheimnisvolle Fieber gefunden. Doch das bedeutete nicht, dass es keines gab!Hier im Untergrund existierten noch immer Orte, an denen das wissenschaftliche Denken weiter schwelte, an denen geforscht, neue Medikamente entwickelt, Seren zubereitet wurden. Zum Beispiel die Polis, das Herz der Metro, an dem vier Arterien zusammenliefen; die Polis war die letzte Andeutung einer Stadt, die sich über das Labyrinth der Gänge zwischen den Stationen Arbatskaja, Borowizkaja, Alexandrowski sad und Biblioteka imeni Lenina erstreckte, und dort hatten sich vor allem Ärzte und Wissenschaftler niedergelassen. Oder der riesige Bunker in der Nähe der Taganskaja, die geheime Wissenschaftsstadt der Hanse.
Außerdem war die Tulskaja vielleicht gar nicht die erste Station, an der die Epidemie ausgebrochen war. Womöglich hatte man sie woanders erfolgreich bekämpft? Wie konnte man so leicht die Hoffnung auf Rettung aufgeben? Natürlich hatte Homer, nun, da er die Zeitbombe der Krankheit in sich trug, seine eigenen, selbstsüchtigen Interessen. Sein Verstand hatte sich schon fast mit dem bevorstehenden Tod abgefunden, doch seine Instinkte lehnten sich dagegen auf und forderten, er müsse einen Ausweg suchen. Wenn er eine Möglichkeit fand, die Tulskaja zu retten, konnte er auch seine eigene Station vor dem Untergang bewahren und kam vielleicht sogar selbst davon.
Hunter dagegen weigerte sich offenbar daran zu glauben, dass es für diese Krankheit ein Heilmittel gab. Ihm genügten die wenigen Worte, die er mit der Wache an der Tulskaja gewechselt hatte, um all ihre Bewohner zum Tode zu verurteilen und sich auch noch selbst zum Vollstrecker seines eigenen Richterspruchs zu machen. Zuerst hatte er die Kommandantur der Sewastopolskaja mit seinem Märchen von den marodierenden Banditen in die Irre geführt, dann ihnen seinen Entschluss aufgedrängt und nun machte er sich an dessen unerbittliche Umsetzung: Die Tulskaja würde im Feuer untergehen.
Aber vielleicht wusste er ja etwas über die Ereignisse an der Station, das erneut alles auf den Kopf stellte? Etwas, das niemand wusste - weder Homer noch der Mann, der sein Tagebuch am Nachimowski prospekt zurückgelassen hatte.
Nachdem er mit den Leichen fertig war, riss der Brigadier seine Feldflasche vom Riemen und sog die letzten Reste ihres Inhalts heraus. Was war darin gewesen? Alkohol? War dieser Trank für ihn eine Zutat, oder wollte er damit einen Nachgeschmack vertreiben? Genoss er den Augenblick, suchte er das Vergessen oder hoffte er vielleicht, mit dem Alkohol etwas in sich abzutöten?
Die alte, qualmende Draisine war für Sascha so etwas wie die Zeitmaschine in jenem Märchen, das ihr Vater ihr manchmal erzählt hatte. Sie brachte sie nicht nur einfach von der Kolomenskaja zur Awtosawodskaja, sondern transportierte sie aus der Gegenwart zurück in die Vergangenheit. Auch wenn ihr Leben in diesem steinernen Sack, diesem Wurmfortsatz jenseits von Raum und Zeit, kaum die Bezeichnung »Gegenwart« verdient hatte.
Sie erinnerte sich noch genau an die Fahrt dorthin: Ihr Vater hatte
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