Metro 2034
unserem Gedächtnis entlassen, wird auch uns selbst einst jemand ins absolute Nichts entlassen. Die Erinnerung an einen Menschen kann seine Gebeine überdauern, doch sobald der letzte fortgeht, der sich an uns erinnert, lösen auch wir uns mit ihm in der Zeit auf.
Fotografien - wer macht die heute noch? Und wie viele bewahrte man damals auf, als noch jeder fotografierte? Früher gab es am Ende eines jeden dicken Familienalbums ein wenig Platz für alte, braun gewordene Abzüge, doch kaum jemand von denen, die darin blätterten, konnte mit Sicherheit sagen, welcher seiner Vorfahren auf den verblichenen Fotos abgebildet war. Zumal die Fotografien Verstorbener ohnehin nur als eine Art Totenmaske zu interpretieren sind, keinesfalls jedoch als Abdruck ihrer Seele zu Lebzeiten. Und dann zerfallen fotografische Abzüge nur wenig langsamer als die Körper, die auf ihnen abgebildet sind.
Was also bleibt? Kinder?« Homer berührte mit dem Finger die Flamme der Kerze.
Die Antwort fiel ihm leicht, denn Achmeds Worte schmerzten ihn immer noch. Er selbst war zur Kinderlosigkeit verdammt, unfähig, sein Geschlecht fortzusetzen, also konnte er nicht anders, als diesen Weg zur Unsterblichkeit auszuschließen. Er griff erneut nach seinem Stift.
»Sie können uns ähnlich sein. In ihren Zügen spiegeln sich unsere eigenen, auf wundersame Weise vereint mit jenen derer, die wir geliebt haben. In ihren Gesten, ihrer Mimik erkennen wir mit Entzücken und manchmal auch mit Sorge uns selbst. Freunde bestätigen, dass unsere Söhne und Töchter uns wie aus dem Gesicht geschnitten sind. All dies verheißt uns eine gewisse Verlängerung unserer selbst, wenn wir einst nicht mehr sind.
Auch wir selbst sind ja nicht das Urbild, nach dem alle folgenden Kopien erstellt werden, sondern nur eine Chimäre, jeweils zur Hälfte bestehend aus inneren und äußeren Merkmalen unserer Väter und Mütter, genauso wie jene ihrerseits aus den Hälften ihrer Eltern bestehen. Gibt es somit in uns gar nichts Einzigartiges, sondern nur eine endlose Mischung winziger Mosaiksteinchen, die unabhängig von uns existieren und sich zu Milliarden zufälliger Bilder zusammensetzen, welche ihrerseits keinen eigenen Wert besitzen und sofort wieder zerfallen? Lohnt es sich also überhaupt, darauf stolz zu sein, wenn wir bei unseren Kindern einen kleinen Hügel oder eine Kuhle entdecken, die wir als unsere eigene betrachten, die jedoch tatsächlich schon eine halbe Million Jahre durch Tausende von Körpern gereist ist? Was bleibt von mir?«
Homer hatte es schwerer gehabt als die anderen. Er hatte stets jene beneidet, denen der Glaube ein Leben im Jenseits in Aussicht stellte. Wann immer das Gespräch auf das Lebensende gekommen war, hatte er sich in Gedanken sogleich an den Nachimowski prospekt mit seinen widerwärtigen, aasfressenden Kreaturen versetzt gefühlt. Aber vielleicht bestand er ja doch nicht nur aus Fleisch und Blut, das früher oder später von den Leichenfressern zerkaut und verdaut wurde. Nur: Selbst wenn es in ihm noch etwas gab, so existierte es sicher nicht unabhängig von seinem Körper.
»Was ist von den ägyptischen Königen geblieben? Was von Griechenlands Helden? Von den Künstlern der Renaissance? Ist etwas von ihnen geblieben -und existieren sie noch in dem, was sie hinterließen? Welche Art von Unsterblichkeit bleibt dem Menschen dann?«
Homer las das, was er geschrieben hatte, noch einmal durch, dachte kurz nach, dann riss er die Blätter vorsichtig aus dem Heft, zerknüllte sie, legte sie auf einen Eisenteller und zündete sie an. Nach einer Minute war von der Arbeit, mit der er die letzten drei Stunden zugebracht hatte, nur noch eine Handvoll Asche übrig.
Sie war gestorben. So hatte sich Sascha den Tod immer vorgestellt: Der letzte Lichtstrahl erloschen, alle Geräusche verstummt, der Körper gefühllos, nichts als ewige Schwärze. Schwärze und Stille, aus der die Menschen gekommen waren und in die sie unausweichlich zurückkehrten. Sascha kannte all die Märchen von Paradies und Hölle, aber die Unterwelt war ihr harmlos vorgekommen. Eine Ewigkeit in absoluter Blindheit, Taubheit und völliger Tatenlosigkeit zuzubringen war ihr hundertmal furchtbarer erschienen als irgendwelche Kessel mit siedendem Öl.
Doch dann flackerte vor ihr eine winzige Flamme auf. Sascha streckte sich nach ihr aus, aber bekam sie sie nicht zu fassen: Der tanzende, zitternde Lichtfleck lief von ihr fort, kam wieder näher, lockte sie, trieb sogleich wieder
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