Metro 2034
wandte seine Aufmerksamkeit dem Bahnsteigrand zu. Mit einer heftigen Bewegung folgte Homer dem blinden Blick der Kreatur, und sein Herz hörte für einen Augenblick auf zu schlagen.
Dort stand, ängstlich um sich blickend, das Mädchen. »Lauf!«, brüllte Homer, und seine Stimme erstickte in einem schmerzhaften Krächzen. Die weiße Chimäre machte einen Satz über mehrere Meter nach vorne und stand nun direkt vor der jungen Frau. Diese zog ein Messer, das höchstens zum Kochen zu gebrauchen war, und machte eine drohende Ausfallbewegung.
Als Antwort schwang die Kreatur eine seiner Vorderpfoten, das Mädchen stürzte zu Boden, und die Klinge flog in hohem Bogen zur Seite.
Homer stand bereits auf der Draisine, doch dachte er nicht an Flucht. Keuchend schwenkte er das Maschinengewehr und versuchte die tänzelnde weiße Silhouette ins Visier zu nehmen.
Erfolglos: Das Ungeheuer war zu nahe an das Mädchen herangerückt. Die Wachen, die ihm noch einigermaßen hätten gefährlich werden können, hatte es innerhalb weniger Minuten zerfetzt, und nun, da es diese beiden hilflosen Geschöpfe in eine Ecke gedrängt hatte, schien es mit ihnen spielen zu wollen, bevor es sie tötete.
Es stand über Sascha gebeugt, so dass der Alte sie nicht sehen konnte. Weidete es sein Opfer bereits aus? Aber dann zuckte es zusammen, fuhr zurück, kratzte mit seinen Klauen über einen sich vergrößernden Fleck auf seinem Rücken und drehte sich brüllend um, bereit, den Angreifer zu verschlingen.
Mit schwankenden Schritten näherte sich Hunter der Kreatur. In der einen Hand hielt er ein Automatikgewehr, die andere hing schlaff herab, und man konnte sehen, wie sehr ihn jede Bewegung schmerzte.
Der Brigadier gab eine weitere Salve auf das Monster ab, doch das erwies sich als verblüffend zäh; es schwankte nur kurz, erlangte sogleich sein Gleichgewicht wieder und stürzte vorwärts. Hunters Patronen versiegten, doch gelang es ihm durch eine erstaunliche Drehbewegung, den enormen Rumpf des Ungeheuers auf die Klinge seiner Machete zu spießen. Die Chimäre stürzte direkt auf ihn, begrub ihn unter sich, erstickte ihn mit ihrem Gewicht.
Wie um alle verbliebene Hoffnung zu beseitigen, sprang nun eine zweite Kreatur hinzu. Sie erstarrte über dem zuckenden Körper ihres Artgenossen, stieß eine Klaue in die weiße Haut, als wolle sie ihn aufwecken, und wandte dann langsam seine augenlose Fratze Homer zu.
Diese Chance ließ er sich nicht entgehen. Das große Kaliber zerfetzte den Torso der Chimäre, spaltete ihren Schädel, und als das Tier bereits gefallen war, zerplatzten noch einige Marmorplatten dahinter zu Splittern und Staub. Homer brauchte einige Zeit, bis sich sein Herz beruhigt und er die verkrampften Finger gelöst hatte.
Dann schloss er die Augen, riss sich die Maske herunter und atmete tief die frostige Luft ein, die gesättigt war vom Geruch frischen Blutes.
Sämtliche Helden waren gefallen, auf dem Schlachtfeld war nur er allein zurückgeblieben. Sein Buch war zu Ende, noch bevor es begonnen hatte.
10 - NACH DEM TOD
Was bleibt von den Toten? Was bleibt von jedem von uns? Grabsteine sinken ein, Moos bedeckt sie, und schon nach wenigen Jahrzehnten sind ihre Aufschriften nicht mehr zu lesen. Auch in früheren Zeiten wurde ein Grab, um das sich niemand mehr kümmerte, einem neuen Toten zugeteilt. Meist besuchten nur die Kinder oder Eltern den Toten, die Enkel schon seltener, die Urenkel fast nie.
Was sich ewige Ruhe nannte, dauerte in den Großstädten nur ein halbes Jahrhundert, dann wurden die Gebeine gestört -um die Gräberdichte zu erhöhen oder weil man den Gottesacker umgraben wollte, um darauf Wohnviertel zu errichten. Die Erde war zu eng geworden, sowohl für die Lebenden als auch für die Toten.
Ein halbes Jahrhundert, das war ein Luxus, den sich nur jene leisten konnten, die vor dem Weltuntergang starben. Doch wen kümmert noch eine einzelne Leiche, wenn ein ganzer Planet im Sterben liegt? Keiner der Bewohner der Metro hat je die Ehre einer Beerdigung genossen, keiner konnte hoffen, dass die Ratten seinen Leichnam verschonten.
Früher hatten die Überreste eines Menschen so lange eine Daseinsberechtigung, wie sich die Lebenden an ihn erinnerten. Ein Mensch erinnert sich an seine Verwandten, seine Freunde, seine Mitarbeiter. Doch sein Gedächtnis reicht nur drei Generationen zurück. Gerade mal etwas mehr als fünfzig Jahre.
Mit der gleichen Leichtigkeit, mit der wir das Bild unseres Großvaters oder Schulfreunds aus
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