Metro 2034
unbewegtem Gesicht zurück an seinen Tisch, öffnete das Notizbuch auf der letzten beschriebenen Seite und begann seine Aufzeichnungen noch einmal durchzulesen. Allmählich verfinsterte sich seine Miene.
Wenn man sie jemals ausgrub. Das Mädchen, ihn selbst und alle anderen. Früher hatte er oft darüber nachgedacht: Was, wenn nach Tausenden von Jahren Archäologen die Ruinen des alten Moskau erforschten, von dem man nicht einmal mehr den Namen kannte, und einen der Zugänge zu den unterirdischen Labyrinthen entdeckten? Wahrscheinlich würden sie vermuten, auf ein gigantisches Massengrab gestoßen zu sein. Kaum jemand würde glauben, dass in diesen dunklen Katakomben Menschen gelebt hatten. Sie würden zu dem Schluss kommen, dass diese einst hochentwickelte Kultur gegen Ende ihrer Existenz stark degradiert war, wenn sie ihre Anführer in einer Gruft mit allem Hausrat, Waffen, Bediensteten und Konkubinen bestattete.
Sein Buch hatte noch etwas mehr als achtzig freie Seiten. Ob das reichen würde, um beide Welten dort unterzubringen: jene, die an der Oberfläche lag, und jene, die sich in der Metro befand? »Hörst du mich nicht?« Das Mädchen schüttelte ihn am Arm. »Was? Entschuldige, ich war in Gedanken.« Er wischte sich die Stirn. »Sind antike Statuen wirklich schön? Ich meine, was die Menschen früher schön fanden, ist es das auch heute noch?« Der Alte zuckte mit den Schultern. »Ja.« »Und morgen auch?« »Gut möglich. Wenn dann noch jemand da ist, um das zu beurteilen.«
Sascha verstummte und dachte nach. Homer trieb das Gespräch nicht voran, sondern tauchte wieder ab in seine eigenen Überlegungen.
Schließlich fragte sie erstaunt: »Das heißt, ohne den Menschen gibt es gar keine Schönheit?« »Wahrscheinlich nicht«, erwiderte er zerstreut. »Wenn keiner sie sehen kann. Tiere sind ja nicht in der Lage .«
»Aber wenn sich die Tiere vom Menschen dadurch unterscheiden, dass sie keinen Unterschied machen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, kann der Mensch dann ohne Schönheit überhaupt existieren?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Doch, durchaus. Es gibt viele, die sie nicht brauchen.« Jetzt holte das Mädchen einen seltsamen Gegenstand aus ihrer Tasche: ein kleines quadratisches Stück Plastik mit einer Zeichnung darauf. Schüchtern und stolz zugleich, als zeige sie ihm einen großen Schatz, hielt sie es Homer hin.
»Was ist das?« »Sag du's mir.« Ein schlaues Lächeln huschte über ihr Gesicht.
»Na ja« - er nahm das Plastikquadrat vorsichtig entgegen, las die Aufschrift und gab es dem Mädchen zurück - »das ist die Verpackung eines Teebeutels. Mit einem Bildchen drauf.«
»Einem Bild«, korrigierte sie ihn und fügte hinzu: »Einem schönen Bild. Wenn es nicht gewesen wäre, ich wäre . zum Tier geworden.«
Homer sah sie an. Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und ihm das Atmen schwerer fiel. Sentimentaler Idiot!, geißelte er sich. Er räusperte sich laut und seufzte. »Bist du noch nie an der Oberfläche gewesen, in der Stadt? Ich meine, außer diesem einen Mal?«
»Na und?« Sascha steckte das Päckchen wieder zurück. »Willst du mir sagen, dass es dort gar nicht so ist wie auf dem Bild? Dass es so was gar nicht gibt? Das weiß ich selber. Ich weiß, wie die Stadt aussieht -die Häuser, die Brücke, der Fluss. Wüst und leer.«
»Ganz und gar nicht«, entgegnete Homer. »Ich habe nie etwas Schöneres gesehen. Du tust so, als wolltest du die ganze Metro anhand einer einzigen Bahnschwelle beurteilen. Wie soll ich es dir beschreiben? Gebäude, höher als jeder Felsen. Große Straßen, auf denen es brodelt wie in einem Bergbach. Ein niemals erlöschender Himmel, leuchtende Nebel . Eine ehrgeizige, kurzlebige Stadt, genauso wie jeder Einzelne von ihren Millionen Einwohnern. Verrückt, chaotisch. Geprägt von dem Versuch, das Unvereinbare zu vereinigen, erbaut ohne jeglichen Plan. Nicht ewig, denn Ewigkeit ist kalt und unbeweglich. Aber dafür so lebendig!« Er ballte die Fäuste, dann winkte er ab. »Du kannst das nicht verstehen. Mit eigenen Augen müsstest du es sehen .« In diesem Moment war er überzeugt, dass Sascha nur an die Oberfläche gehen musste, damit ihr all das erschien, was er soeben beschrieben hatte. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass sie die Stadt nie in ihrem damaligen, lebendigen Zustand gesehen hatte.
Homer hatte mit jemandem gesprochen, und man hatte sie - unter Bewachung, wie zur Hinrichtung - durch die Absperrungen der Hanse und
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