Metro 2034
zu verziehen, um Sascha nicht zu verscheuchen. Vielleicht hatte sie ja recht. An der Nagatinskaja hatte Hunter seine Gefährten einfach vergessen, sie den geisterhaften Zyklopen zum Fraß vorgeworfen. Doch in diesem Kampf. Womöglich bedeutete ihm das Mädchen tatsächlich etwas?
Nachdenklich schlenderte Homer den Gang entlang zu seinem Krankenzimmer. Ein Pfleger kam ihm entgegen und rempelte ihn an, doch der Alte bemerkte es nicht einmal. Es war Zeit, Sascha den Gegenstand zu geben, den er für sie gekauft hatte. Wie es aussah, würde sie ihn bald brauchen können.
Aus der Tischschublade holte er ein Päckchen und drehte es in den Händen. Nach ein paar Minuten stürzte das Mädchen herein, nervös, verwirrt und wütend. Sie setzte sich auf ihr Bett, zog die Beine hoch und starrte in die Ecke. Homer wartete, ob das Gewitter ausbrechen oder vorbeiziehen würde. Sascha schwieg und begann ihre Fingernägel zu kauen. Es war Zeit zu handeln.
»Ich habe ein Geschenk für dich.« Der Alte kam hinter dem Tisch hervor und legte das Bündel neben dem Mädchen auf die Bettdecke.
»Wozu?«, schnappte sie, ohne ihr Schneckenhaus zu verlassen. »Wozu machen sich Menschen Geschenke?« »Um für Gutes zu bezahlen«, erwiderte Sascha überzeugt. »Das man bekommen hat oder das man braucht.«
»Dann sagen wir eben, dass ich dich für das Gute bezahle, das du mir bereits gegeben hast.« Homer lächelte. »Um mehr bitte ich dich nicht.« »Ich habe dir gar nichts gegeben«, entgegnete das Mädchen. »Und was ist mit meinem Buch?« Er setzte eine scherzhaft beleidigte Miene auf. »Ich habe dich schon darin aufgenommen. Also müssen wir jetzt abrechnen. Ich bin ungern etwas schuldig. Nun komm schon, pack es aus.«
»Ich schulde auch nicht gerne was«, sagte Sascha und riss die Verpackung auf. »Was ist das? Oh!« In ihrer Hand hielt sie eine rote Plastikscheibe, ein flaches Kästchen, dessen beide Hälften sich aufklappen lie ßen. Früher einmal war es eine billige Reisepuderdose gewesen, doch die beiden Fächer -für den Puder und das Rouge - waren längst leer. Dafür war der Spiegel auf der Innenseite des Deckels bestens erhalten. »Hier sieht man sich besser als in einer Pfütze.« Sascha musterte mit großen Augen ihr Spiegelbild. Es sah seltsam aus. »Wozu hast du es mir gegeben?«
»Manchmal bringt es etwas, sich von der Seite zu betrachten.« Homer schmunzelte. »Man versteht viel von sich selbst.« »Was soll ich denn von mir verstehen?« Saschas Stimme war wieder vorsichtig geworden.
»Es gibt Menschen, die in ihrem Leben noch nie ihr eigenes Spiegelbild gesehen haben und sich deshalb für jemand ganz anderes halten. Von innen sieht man das manchmal schlecht, und es ist keiner da, der einen darauf hinweisen kann. Diese Menschen leben so lange mit ihrem Irrtum, bis sie zufällig auf einen Spiegel stoßen. Und wenn sie dann vor ihrem Spiegelbild stehen, können sie oft gar nicht glauben, dass sie sich selbst sehen.«
»Und wen sehe ich?« »Sag du's mir.« Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Mich selbst. Na ja . ein Mädchen.« Um sich zu vergewissern, drehte sie dem Spiegel erst die eine Wange zu, dann die andere. »Eine junge Frau«, verbesserte Homer. »Und zwar eine ziemlich ungepflegte.«
Sie drehte sich noch ein paarmal hin und her, dann blitzte sie Homer an, schien etwas fragen zu wollen, überlegte es sich anders, schwieg kurz, nahm ihren Mut zusammen und platzte heraus: »Bin ich hässlich?«
Der Alte räusperte sich. Nur mit Mühe hielt er seine Mundwinkel im Zaum. »Schwer zu sagen. Unter all dem Schmutz ist das schlecht zu erkennen.« Sascha hob die Augenbrauen. »Was ist das Problem? Haben Männer etwa kein Gefühl dafür, ob eine Frau schön ist oder nicht? Muss man euch immer alles zeigen und erklären?«
»Scheint so. Und genau das nutzen die Frauen oft aus, um uns zu betrügen.« Homer musste lachen. »Ein Make-up kann bei einem weiblichen Gesicht Wunder bewirken. Aber in deinem Fall geht es nicht darum, das Porträt zu restaurieren, sondern vielmehr darum, es freizulegen. Wenn von einer antiken Statue nur die Ferse aus der Erde ragt, lässt sich wenig über ihr Aussehen sagen.« Dann fügte er versöhnlich hinzu: »Obwohl sie mit großer Wahrscheinlichkeit wunderschön ist.«
»Was heißt ‚antik‘?«, fragte Sascha misstrauisch. »Alt.« Homer amüsierte sich noch immer. »Ich bin erst siebzehn!« »Das lässt sich erst später feststellen. Nach der Ausgrabung.«
Der Alte setzte sich mit
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