Metro2033
Licht.
Sie schalteten die Taschenlampen ein und fanden nach einigem Suchen den Zugang zur Treppe. Die Aufzüge, mit denen man früher in weniger als einer Minute nach oben gerauscht war, standen nun nutzlos, mit weit geöffneten Türen im Erdgeschoss. Sie erinnerten an die Kiefer eines Paralytikers.
Ulman verkündete, dass sie über dreihundert Höhenmeter zu bewältigen hatten. Die ersten zweihundert Stufen fielen Artjom leicht - immerhin hatten sich seine Beine in den letzten Wochen an Belastungen gewöhnt. Ab der zweihundertfünfzigsten ging ihm jedoch das Gefühl verloren, dass sie sich vorwärts bewegten. Die Treppe drehte sich unermüdlich weiter, und zwischen den Stockwerken war kein Unterschied zu spüren. Der Turm war feucht und kalt, der Blick glitt an den nackten Betonwänden ab, die seltenen Türen standen weit offen und gaben den Blick auf verlassene Senderäume frei.
Nach fünfhundert Stufen legte Ulman eine erste Pause ein, und erst jetzt merkte Artjom, wie müde seine Beine waren. Doch schon nach fünf Minuten brachen sie wieder auf, denn Ulman fürchtete den Moment zu verpassen, wenn der Stalker versuchen würde, mit ihnen Verbindung aufzunehmen.
Bei Stufe achthundert kam Artjom mit dem Zählen durcheinander. Seine Beine waren bleischwer, jedes wog ungefähr dreimal so viel wie zu Beginn des Aufstiegs. Am härtesten war es, die Fußsohlen vom Boden zu lösen - sie klebten daran wie an einem Magneten fest. Schweiß floss Artjom in die Augen, die grauen Wände verschwammen, und ständig blieben seine Stiefel an den Stufen hängen. Stehen bleiben und ausruhen war unmöglich, denn hinter sich hörte er Pawels angestrengtes Keuchen, der ein ungefähr doppelt so schweres Gewicht trug wie Artjom.
Nach weiteren fünfzehn Minuten ließ Ulman sie wieder zu sich kommen. Auch er selbst sah erschöpft aus, seine Brust hob und senkte sich schwer unter dem unförmigen Schutzanzug, und seine Hand suchte an der Wand nach einer Stütze. Aus seinem Rucksack holte er eine Feldflasche mit Wasser und reichte sie Artjom.
In der Gasmaske war ein spezielles Ventil vorgesehen, durch das man trinken konnte. Obwohl sich Artjom bewusst war, wie viel Durst auch die beiden anderen haben mussten, konnte er sich doch von dem Gummischlauch nicht losreißen, bis er die Hälfte der Flasche geleert hatte. Dann sank er auf den Boden und schloss die Augen.
»Komm, es ist nicht mehr weit!«, rief ihm Ulman zu. Er stellte Artjom mit einem Ruck wieder auf die Beine, nahm dessen Tasche, warf sie sich über die Schulter und ging weiter.
Wie lange der letzte Teil des Aufstiegs dauerte, wusste Artjom nicht. Stufen und Wände verschwammen vor seinen Augen, die Lichtflecken, die durch die verschmierten Aussichtsscheiben hereinfielen, erschienen ihm wie glänzende Wolken, und eine Zeit lang lenkte er sich ab, indem er ihr fröhliches Spiel betrachtete. Das Blut pochte in seinen Schläfen, die kalte Luft brannte in den Lungen, und die Treppe wollte kein Ende nehmen. Mehrmals sank er zu Boden, doch jedes Mal halfen die beiden anderen ihm auf und trieben ihn weiter.
Warum tat er das alles?
Damit das Leben in der Metro weiterging?
Ja.
Damit sie an der WDNCh weiter Pilze und Schweine züchten konnten, damit sein Stiefvater und Schenjas Familie dort in Frieden leben konnten, damit sich die Menschen wieder an der Alexejewskaja und der Rischskaja ansiedelten, damit der Handel an der Belorusskaja nicht versiegte. Damit die Brahmanen in ihren Gewändern durch die Polis wandeln und mit Buchseiten rascheln konnten, damit sie altes Wissen erforschten und an die nächsten Generationen weitergaben. Damit die Faschisten ihr Reich bauten, ihre Feinde einfingen und sie zu Tode folterten. Damit die Menschen des Wurms weiter fremde Kinder entführten und Erwachsene auffraßen. Damit die Frau an der Majakowskaja weiter ihren kleinen Sohn verkaufen konnte, um sie beide damit durchzubringen. Damit die Rattenrennen an der Pawelezkaja nicht aufhörten und die Kämpfer der Brigade ihre Überfälle auf die Faschisten und ihre dialektischen Diskussionen fortsetzen konnten. Damit Tausende von Menschen in der ganzen Metro atmeten, aßen, einander liebten, ihren Kindern Leben gaben, sich entleerten, schliefen, träumten, kämpften, töteten, sich begeisterten, einander betrogen, philosophierten, hassten, damit jeder an sein eigenes Paradies und an seine eigene Hölle glaubte ... Damit das Leben in der Metro, dieses sinnlose, nutzlose Leben, erhaben und licht,
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