Metro2033
hätte er Bourbon jetzt eins in die grinsende Fresse gegeben.
Von Weitem war plötzlich ein undefinierbares Raunen zu hören, so dass Artjom augenblicklich die Kränkung vergaß, den Griff seines Gewehrs packte und Bourbon fragend ansah.
Dieser klopfte ihm väterlich auf die Schulter. »Entspann dich, alles im Lot. Wir sind schon am Prospekt.«
Für Artjom war es ungewohnt, einfach so, unmittelbar, eine fremde Station zu betreten, ohne zuvor den Schein des Feuers zu sehen, das die Stationsgrenzen markierte, und ohne dabei auf irgendwelche Hindernisse zu treffen. Als sie sich dem Ausgang des Tunnels näherten, nahm der Lärm zu, und ein schwaches Licht machte sich bemerkbar.
Endlich kam linkerhand ein gusseisernes Treppchen in Sicht sowie eine kleine Brücke mit Geländer, die an der Tunnelmauer klebte und es ermöglichte, von den Gleisen auf die Ebene des Bahnsteigs zu kommen. Bourbons beschlagene Stiefel knallten auf die Eisenstufen, nach ein paar Schritten machte der Tunnel plötzlich einen Knick nach links - und sie waren an der Station angelangt.
Sogleich schlug ihnen ein greller, weißer Lichtstrahl ins Gesicht. Vom Tunnel aus unsichtbar, stand seitlich ein kleiner Tisch, an dem ein Mann in unbekannter und seltsam grauer Uniform und mit einer alten Schirmmütze mit verziertem Rand saß.
»Willkommen!«, begrüßte er sie und lenkte den Lichtstrahl zur Seite. »Handel, Transit?«
Während Bourbon das Ziel ihres Besuchs darlegte, ließ Artjom seinen Blick über die Station schweifen, die den Namen Prospekt Mira, also Prospekt des Friedens, trug. Am Bahnsteig bei den Gleisen herrschte Halbdunkel, aber durch die Rundbögen schien ein schwaches, gelbes Licht, bei dessen Anblick sich Artjoms Herz plötzlich zusammenkrampfte. Nun wollte er die Formalitäten möglichst schnell hinter sich bringen, um herauszufinden, was sich an der Station tat, dort, hinter den Bögen, aus denen dieses schmerzlich bekannte, heimelige Licht kam. Und obwohl Artjom überzeugt war, dergleichen noch nie gesehen zu haben, transportierte ihn der Anblick dieses Rundbogens für einen Moment zurück in die ferne Vergangenheit, und vor seinem inneren Auge sah er ein seltsames Bild: ein kleines Zimmer, durchströmt von warmem, gelbem Licht. Darin eine breite Liege, auf der eine junge Frau, deren Gesicht nicht zu erkennen war, halb sitzend, halb liegend ein Buch las. In der Mitte der mit pastellfarbener Tapete beklebten Wand war das dunkelblaue Quadrat eines Fensters zu erkennen ... Einen Augenblick später löste sich die Vision wieder auf und ließ Artjom überrascht und beunruhigt zurück. Was hatte er da gerade gesehen? Hatte das gelbe Licht etwa eine irgendwo im Unbewussten verwahrte Folie mit einem Bild seiner Kindheit auf einen unsichtbaren Bildschirm projiziert? War jene junge Frau, die auf der bequemen Liege friedlich ein Buch las, seine Mutter?
Ungeduldig hielt er dem Zollbeamten seinen Pass hin, gab - trotz aller Einwände Bourbons - für die Dauer seines Aufenthalts das Sturmgewehr bei der Aufbewahrungsstelle ab und eilte, von dem Licht gelockt wie eine Motte, durch die Säulen dorthin, von wo der Marktlärm kam.
Der Prospekt Mira unterschied sich sowohl von der WDNCh als auch von der Alexejewskaja und der Rischskaja. Die prosperierende Hanse konnte sich eine weitaus bessere Beleuchtung leisten als jene Notlampen, die an den Artjom bekannten Stationen in Betrieb waren. Zwar waren es nicht wirkliche Leuchter wie die, die der Metro damals Licht gaben, sondern Niedrigleistungs-Glühlampen, die alle zwanzig Schritt von einem Kabel an der Decke herabhingen - Artjom jedoch, der das trübrote Notdämmern gewohnt war, das unsichere Flackern der Lagerfeuer, den schwachen Schein winziger Glühbirnen aus Taschenlampen, kam die Beleuchtung beinahe wie ein Wunder vor. Es war das gleiche Licht, das seine frühe Kindheit beleuchtet hatte - dort oben. Es bezauberte ihn, erinnerte ihn an etwas, das schon lange vorüber war. Anstatt wie die anderen Menschen die Handelsreihen abzugehen, stand Artjom an eine Säule gelehnt da, schützte seine Augen mit der Hand und sah diese Lampen an, wieder und wieder, bis ihm die Augen schmerzten.
»Sag mal, bist du verrückt geworden?«, ertönte Bourbons Stimme von hinten. »Was starrst du so, willst du deine Augen ruinieren? Am Ende tappst du noch wie ein blinder Welpe herum, und was mach ich dann mit dir? Wenn du ihnen schon deine Knarre dalässt, könntest du dir wenigstens anschauen, was hier so läuft...
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