Metro2033
fragen darf?«
»Ich, na ja, eigentlich keiner«, stotterte Artjom. »Warum?«
»Und wie stehen Sie zu anderen Völkern, den Kaukasiern zum Beispiel?«
»Was haben denn die Kaukasier damit zu tun? Jedenfalls kenne ich mich mit Nationalitäten nicht besonders gut aus. Na ja, Franzosen oder Deutsche, früher gab es noch die Amerikaner, aber von denen ist ja wahrscheinlich niemand übrig geblieben. Doch von den Kaukasiern kenne ich, ehrlich gesagt, niemanden.«
»Sie nennen die Kaukasier Schwarze«, erklärte Michail Porfirjewitsch. »Dabei sind es völlig normale Menschen - nur diese Mordgesellen glauben, dass sie sich von ihnen irgendwie unterscheiden, und machen deshalb Jagd auf sie. Einfach bestialisch! Stellen Sie sich nur vor, an der Decke über den Gleisen haben sie Haken montiert. An einem davon hing ein Mensch, aus Fleisch und Blut. Wanetschka hat sich natürlich aufgeregt, hat mit dem Finger auf ihn gezeigt und etwas gebrabbelt, und da ist er diesen Unmenschen erst aufgefallen.«
Als er seinen Namen hörte, drehte sich der Junge um und warf einen langen, trüben Blick auf den Alten. Artjom hatte den Eindruck, dass er zuhörte, ja sogar zum Teil verstand, worum es ging-
»Und da wir schon von Völkern sprechen«, fuhr Michail Porfirjewitsch fort. »Offenbar verehren sie dort besonders die Deutschen. Denn die haben ihre Ideologie erfunden, aber das wissen Sie ja sicher, wem erzähle ich das?« Artjom nickte unbestimmt, um nicht ganz so ungebildet dazustehen. »Überall hängen deutsche Adler, Hakenkreuze, irgendwelche deutschen Sprüche, Hitlerzitate von Heldenmut und Stolz und Ähnlichem. Auch Paraden halten sie ab und Aufmärsche. Als wir dort standen und ich sie zu überreden versuchte, dass sie Wanetschka in Ruhe lassen, marschierte gerade ein Trupp die Station entlang und sang deutsche Lieder dazu. Irgendwas von der Größe des Geistes und der Verachtung des Todes. Eigentlich haben sie es mit der deutschen Sprache richtig getroffen, das Deutsche ist für solche Dinge wie geschaffen. Ich spreche es nämlich ein bisschen, verstehen Sie ... Schauen Sie, hier habe ich etwas aufgeschrieben ...« Michail Porfirjewitsch holte aus der Innentasche seiner Jacke einen speckigen Notizblock hervor, wobei er ganz aus dem Tritt kam. »Warten Sie eine Sekunde, leuchten Sie doch bitte hierher, wenn's recht ist... Wo war es denn? Ach, hier.«
In dem gelben Lichtkreis sah Artjom hüpfende lateinische Buchstaben, die ordentlich auf dem Notizblatt angeordnet und sogar mit einem Rahmen mit rührenden Vignetten versehen waren:
Besitz stirbt, Sippen sterben, du selbst stirbst wie sie; eins weiß ich, das ewig lebt: des Toten Tatenruhm
Artjom konnte lateinische Buchstaben lesen. Er hatte es nach einem uralten Schulbuch gelernt, das er in der Stationsbibliothek ausgegraben hatte. Unruhig sah er sich um und leuchtete noch einmal auf den Block. Natürlich verstand er nichts davon.
»Was ist das?«, fragte er und zog Michail Porfirjewitsch weiter, der den Block eilig in die Tasche stopfte und versuchte, Wanetschka anzutreiben - doch dieser sträubte sich aus irgendeinem Grund und begann unzufrieden zu knurren.
»Ein Gedicht«, erwiderte der Alte leicht gekränkt, wie es Artjom schien. »Zum Gedenken an die gefallenen Soldaten. Hören Sie, wie es im Deutschen donnert: >Des Toten Tatenruhm! < Da läuft es einem doch eiskalt den Rücken runter ...« Plötzlich verstummte er, vielleicht weil er sich seiner Begeisterung schämte.
Einige Zeit gingen sie schweigend weiter. Artjom war wütend auf den Umstand, dass sie nun tatsächlich die Letzten waren - ohne zu wissen, was hinter ihnen geschah -, und weil sie mitten im Tunnel stehen geblieben waren, um irgendein Gedicht zu lesen. Doch gegen seinen Willen ließ er dessen letzte Worte über seine Zunge rollen und musste plötzlich an Witalik denken. Witalik der Nörgler, mit dem sie damals zum Botanischen Garten gegangen waren. Witalik, den Banditen bei einem Überfall vom Südtunnel aus erschossen hatten. Dieser Tunnel hatte immer als sicher gegolten, weshalb man Witalik dorthin abgeordnet hatte, obwohl er gerade erst achtzehn Jahre alt war und Artjom sogar erst sechzehn. An dem Abend wollten sie Schenja besuchen gehen, dem ein Händler gerade frisches, angeblich ganz besonderes dar mitgebracht hatte. In den Kopf hatten sie ihn getroffen. Das Loch vorne auf der Stirn war nur ganz klein gewesen, dafür hatte es ihm den halben Hinterkopf weggerissen. Mehr hatte es nicht gebraucht.
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