Metro2033
zum Tode Verurteilten, der weiß, dass er in einem Jahr hingerichtet wird, oder das Leben eines Todkranken, dem die Ärzte mitgeteilt haben, wie lange ihm noch bleibt, unterscheidet sich vom Leben der normalen Menschen nur in einer Hinsicht: Die einen wissen ungefähr, wann sie sterben, während die anderen in Unwissenheit leben und daher glauben, sie könnten ewig leben, obwohl es nicht ausgeschlossen ist, dass sie schon am nächsten Tag Opfer eines Unfalls werden. Nicht der Tod ist schrecklich - schrecklich ist das Warten darauf.
In sieben Stunden.
Wie würden sie es machen? Artjom hatte keine besonders gute Vorstellung davon, wie man einen Menschen erhängte. An seiner Station hatten sie einmal einen Verräter erschossen, aber Artjom war damals noch klein gewesen und hatte sich wenig dabei gedacht. Außerdem hätten sie an der WDNCh eine Hinrichtung niemals öffentlich zur Schau gestellt.
Wahrscheinlich würden sie ihm ein Seil um den Hals legen und ihn dann entweder zur Decke ziehen, oder mit einem Schemel unter den Füßen ... Nein, er durfte daran nicht denken.
Er hatte Durst.
Mühsam stellte er eine verrostete Weiche um, und die Lore seiner Gedanken rollte langsam auf ein anderes Gleis - zu dem Offizier, den er erschossen hatte. Dem ersten Menschen, den er getötet hatte. Wieder sah er, wie sich unsichtbare Kugeln in die breite Brust mit dem Schulterriemen gruben, wie jede einen schwarzen Brandfleck hinterließ, der sich sogleich mit Blut füllte. Er empfand keinerlei Reue, und das wunderte ihn. Er hatte einmal gelesen, dass jeder Ermordete schwer auf dem Gewissen des Mörders lastet, ihm im Traum erscheint, ihn bis ins hohe Alter verfolgt und die Gedanken wie ein Magnet anzieht. Offenbar war dem nicht so. Kein Mitleid. Keine Reue. Nur düstere Befriedigung. Artjom war sich sicher: Sollte ihm sein Opfer jemals im Traum erscheinen, würde er sich einfach gleichgültig von ihm abwenden, und die Erscheinung würde spurlos verschwinden. Und das Alter? Nun, das Alter würde es jetzt nicht mehr geben.
Wieder war Zeit vergangen. Wahrscheinlich doch auf einen Schemel ... Nein, wenn er nur noch so wenig zu leben hatte, musste er an etwas Wichtiges denken, etwas, wofür er sich nie die Zeit genommen, was er stets aufgeschoben hatte. Daran, dass er sein Leben falsch gelebt hatte und, würde es ihm noch einmal geschenkt, alles anders machen würde ... Nein, ein anderes Leben gab es für ihn nicht, und daran war nichts zu ändern. Höchstens: Als jener den Schuss auf Wanetschkas Kopf abgab, hätte er da vielleicht doch nicht zur Waffe greifen, sondern einfach zur Seite gehen sollen? Nein. Er hätte es nicht fertiggebracht. Wanetschka und Michail Porfirjewitsch hätte er niemals aus seinen Träumen verjagen können ... Was wohl aus dem Alten geworden war? Teufel, nur einen Schluck Wasser!
Zuerst würden sie ihn aus der Zelle führen. Wenn er Glück hatte, würde man ihn durch den Gang zur anderen Station bringen, das brachte ihm noch etwas Zeit. Wenn sie ihm nicht wieder die verfluchte Mütze überzogen, würde er noch etwas sehen außer diesen Gitterstäben und der endlosen Reihe von Zellen ... Artjom stieß sich ab, blickte seinen Nachbarn an und öffnete die ausgetrockneten Lippen. »Welche Station ist das?«
»Die Twerskaja«, erwiderte der Mann. »Hör mal, weswegen sitzt du hier?«
»Hab nen Offizier umgebracht.« Artjom sprach langsam, das Reden fiel ihm schwer.
»Ah ...« Der Dunkle nickte anerkennend. »Geht's jetzt an den Galgen?«
Artjom zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und lehnte sich wieder an das Gitter.
Sein Nachbar nickte erneut. »Ganz sicher.«
Ja, sicher. Schon bald. Und zwar gleich hier. Niemand würde ihn irgendwohin bringen ...
Etwas zu trinken. Um den rostigen Geschmack im Mund fortzuspülen, die ausgetrocknete Kehle anzufeuchten. Vielleicht würde er sich dann länger unterhalten können als nur eine Minute. In der Zelle gab es kein Wasser, am anderen Ende stand lediglich ein übelriechender Blecheimer. Ob er die Wächter fragen sollte? Vielleicht machte man ja bei Todeskandidaten gewisse Zugeständnisse? Wenn er doch nur seine Hand aus dem Gitter strecken könnte, um sie heranzuwinken. Aber seine Hände waren hinter dem Rücken gefesselt, der Draht grub sich ins
Handgelenk, die Finger waren angeschwollen und taub. Er versuchte zu rufen, doch es kam nur ein Krächzen heraus, das in einem fürchterlichen Hustenanfall endete. Immerhin bemerkten die Wächter seine Kontaktversuche
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