Metro2033
umhereilenden Menschen hielten von Zeit zu Zeit vor den Uhren an, einige, die selbst Uhren hatten, verglichen diese mit den roten Ziffern auf der Anzeige und gingen dann wieder ihren Geschäften nach. Was wohl Khan zu alldem gesagt hätte?
Anders als in Kitai-gorod , wo man jedem Reisenden großes Interesse entgegenbrachte, ihm etwas verkaufen wollte oder ihn in ein Zelt zu locken versuchte, waren hier alle mit sich selbst beschäftigt. Für Artjom interessierte sich niemand, und das verstärkte nur noch das Gefühl der Einsamkeit.
Um sich von seiner zunehmenden Schwermut abzulenken, begann Artjom die Menschen genauer zu betrachten. Auf den ersten Blick hetzten, schrien, arbeiteten und stritten sich hier ganz normale Menschen, wie sonst überall auch. Doch je aufmerksamer er sie beobachtete, desto kälter lief es ihm den Rücken hinunter. Es waren viele Krüppel und Missgeburten darunter: Dem einen fehlten die Finger, die Haut des anderen war von ekelhaftem Schorf überzogen, und wieder jemand anderer hatte einen groben Stumpf, wo man ihm einen dritten Arm amputiert hatte. Den Erwachsenen fehlten oft die Haare, sie sahen kränklich aus, während gesunde, kräftige Menschen kaum zu sehen waren. Der Anblick dieser erbärmlichen, ja degenerierten Wesen kontrastierte geradezu schmerzhaft mit der düsteren Erhabenheit der Station.
In der Mitte des breiten Bahnsteigs führten zwei rechteckige Schächte in die Tiefe. Hier begann die Unterführung zur Ringstation. Doch waren weder Grenzbeamte noch irgendein Kontrollpunkt der Hanse zu sehen, wie etwa am Prospekt Mira. Artjom erinnerte sich: Jemand hatte erwähnt, dass die Hanse alle benachbarten Stationen in eisernem Griff hielt. Offenbar gab es hier also ein furchtbares Geheimnis.
Er ging nicht bis ganz zum Ende des Saals, sondern kaufte sich zunächst für fünf Patronen eine Schüssel gebratener Pilze und ein Glas fauligen, etwas bitter schmeckenden Wassers. Auf einer umgedrehten Plastikkiste, wie man sie früher für Glasflaschen verwendet hatte, fand er einen Platz und würgte das Zeug hinunter. Dann ging er zu dem Zug auf dem anderen Gleis in der Hoffnung, dort ein wenig ausruhen zu können. Er war mit seinen Kräften am Ende, sein Körper schmerzte noch immer von dem Verhör.
Dieser Zug war ganz anders als der in Kitai-gorod. Die Waggons waren leer und schäbig, teilweise sogar verbrannt und verschmort. Die weichen Lederpolster hatte man herausgerissen und weggeschafft. Überall waren vertrocknete Blutflecken zu sehen, und auf dem Boden glänzten unheilvoll Unmengen von Patronenhülsen. Dieser Ort war ein denkbar ungeeigneter Rastplatz - er erinnerte eher an eine Festung, die bereits mehrere Belagerungen überstanden hatte.
Während sich Artjom den Zug besah, war nicht viel Zeit vergangen, doch als er wieder auf den Bahnsteig hinaustrat, erkannte er die Station kaum wieder. Die Verkaufsstände waren verlassen, der Lärm abgeklungen, und außer ein paar Vagabunden, die unweit des Übergangs zur Hanse saßen, war keine Menschenseele mehr zu sehen. Auch war es deutlich dunkler geworden, nur in der Mitte des Saals brannten noch ein paar Fackeln, und in der Ferne, am gegenüberliegenden Ende, flackerte ein schwaches Lagerfeuer. Die Uhren zeigten kurz nach acht Uhr abends. Was war passiert? Artjom ging weiter, so schnell es ihm sein schmerzender Körper erlaubte. Den Übergang zur Hanse versperrten auf beiden Seiten nicht die üblichen Gatter, sondern schwere, eisenbeschlagene Tore. Das Tor an der zweiten Treppe stand ein wenig offen, und durch den Spalt konnte Artjom ein stabiles Gitter erkennen, das wie die Gefängniszellen an der Twerskaja aus dickem Bewehrungsstahl zusammengeschweißt war. Dahinter stand ein kleiner Tisch mit einer schwachen Lampe, an dem ein Wachmann in einer ausgeblichenen graublauen Uniform saß.
»Nach acht Uhr kein Zugang«, erwiderte er mechanisch auf Artjoms Bitte, ihn einzulassen. »Erst wieder um sechs Uhr.« Dann wandte er sich ab. Das Gespräch war beendet.
Artjom war wie vor den Kopf geschlagen. Warum gab es nach acht Uhr kein Leben mehr auf dieser Station? Was tun? Die Obdachlosen, die mit ihren Pappschachteln herumhantierten, wirkten so abstoßend auf ihn, dass er beschloss, sein Glück bei dem Lagerfeuer am anderen Ende des Saals zu suchen.
Bereits aus der Ferne jedoch erkannte er, dass es sich nicht um eine Ansammlung von Landstreichern handelte, sondern um so etwas wie einen Grenzposten: Vor dem Feuer waren kräftige männliche
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