Metro2033
als wollte er einen im Sumpf stecken gebliebenen Menschen an einem einzigen Haar herausziehen. Und dann - oh Wunder! - bekam er tatsächlich eines der Bilder zu fassen, und plötzlich erinnerte er sich an den Gedanken in jener ursprünglichen Form, in der er in seinem Traum erklungen war.
Um deine Reise zu vollenden, musst du aufhören zu gehen.
Jetzt allerdings, im grellen Licht seines wachen Bewusstseins, erschien ihm dieser Gedanke banal und absurd. Um die Reise zu beenden, musste er aufhören zu gehen? Na klar! Wenn er stehen blieb, hörte seine Reise auf. Was war einfacher? Aber war das etwa der Ausweg?
»Geliebter Bruder! Unflat liegt auf deinem Körper und in deiner Seele!«
Die Stimme direkt über ihm kam so unerwartet, dass der zurückgekehrte Gedanke und das bittere Gefühl der Enttäuschung augenblicklich verschwanden. Dabei bezog er die Worte zunächst gar nicht auf sich selbst, so sehr war er bereits gewohnt, dass die Menschen vor ihm in alle Himmelsrichtungen davonliefen.
»Wir nehmen alle Waisen und Armen auf«, fuhr die Stimme fort. Sie klang so sanft, so beruhigend, so zart, dass Artjom einen schiefen Blick nach links und rechts riskierte, um festzustellen, an wen sie sich wohl richtete.
Doch es war niemand anderer in der Nähe. Man sprach also zu ihm. Artjom hob langsam den Kopf und sah in die Augen eines kleinen, lächelnden Mannes in einem weiten Gewand, mit dunkelblonden Haaren und rosigen Wangen, der ihm freundschaftlich die Hand hinstreckte. Für Artjom war jetzt jegliche Anteilnahme lebenswichtig, also lächelte er unsicher zurück und reichte dem anderen ebenfalls die Hand.
Warum schreckt er nicht vor mir zurück wie die anderen?, fragte er sich. Warum hat er mich angesprochen, wo doch sonst jeder größtmöglichen Abstand zu mir hält?
»Ich helfe dir, mein Bruder«, fuhr der Rotbackige fort. »Meine Brüder und ich werden dir Unterschlupf und deiner Seele neue Kraft geben.«
Artjom nickte nur, doch seinem Gegenüber genügte dies.
»So lass mich dich in den Wachtturm bringen, mein geliebter Bruder«, sprach der Mann mit singender Stimme, ergriff Artjoms Hand und zog ihn mit sich fort.
11
DER EIGENE WEG
Artjom erinnerte sich nicht mehr an den Weg. Er wusste nur, dass sie ihn von der Station in einen von vier Tunneln geführt hatten, jedoch nicht, in welchen. Sein neuer Bekannter hatte sich ihm als Bruder Timofej vorgestellt. Unterwegs von der düsteren, unansehnlichen Serpuchowskaja durch den lautlosen Tunnel redete er ununterbrochen. »Frohlocke, oh geliebter Bruder, dass wir uns begegnet sind. Von nun an wird sich in deinem Leben alles ändern. Deine ziellose Wanderschaft durch die ewige Finsternis hat ein Ende, denn nun hast du gefunden, was du suchtest.«
Artjom begriff nicht, was der andere meinte, denn eigentlich glaubte er, dass seine Wanderschaft noch lange nicht zu Ende war. Die Worte des rosigen Timofej flössen jedoch so wohltuend und zart dahin, dass er ihm nur noch zuhören wollte. Und er wollte zu ihm in derselben Sprache sprechen, ihm dafür danken, dass er, im Gegensatz zur übrigen Welt, nicht vor ihm zurückgeschreckt war.
»Glaubst du denn an den wahren und einzigen Gott, Artjom, mein Bruder?«, erkundigte sich Timofej ganz nebenbei und sah Artjom aufmerksam in die Augen.
Artjom nickte nur unbestimmt mit dem Kopf und murmelte etwas Unverständliches, was man je nach Belieben als Zustimmung oder Ablehnung interpretieren konnte.
»Wie schön, wie wunderbar, Bruder Artjom«, gurrte Timofej. »Nur der wahre Glaube wird dich von den ewigen Höllenqualen erlösen und dir die Vergebung deiner Sünden schenken.« Er nahm eine feierliche Haltung ein. »Denn das Reich unseres Gottes Jehova wird kommen, und die heiligen Prophezeiungen der Bibel werden in Erfüllung gehen. Studierst du die Bibel, mein Bruder?«
Erneut stammelte Artjom etwas vor sich hin, und diesmal blickte ihn der rosige Bruder zweifelnd an.
»Im Wachtturm«, fuhr er fort, »wirst du dich selbst davon überzeugen, wie gut es ist, die Heilige Schrift zu studieren, und dass derjenige, der auf den Weg der Wahrheit zurückkehrt, reich beschenkt wird. Die Bibel ist das Geschenk Jehovas, des einzigen Gottes. Sie lässt sich nur mit dem Brief eines liebenden Vaters an seine Kinder vergleichen. Weißt du denn, wer die Bibel geschrieben hat?«
Artjom hielt es für sinnlos, sich weiter zu verstellen. Aufrichtig schüttelte er den Kopf.
»Dies und vieles andere wird man dir im Wachtturm erklären. Die Augen
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