Metro2033
sich überzeugt hatte, dass die Gefahr vorüber war, herrschte er Artjom wütend an. »Wozu habe ich euch eigentlich gewarnt, du Trottel? Tu gefälligst, was Ältere dir sagen!« Er schlug ihm unsanft ins Genick.
Der Helm dämpfte die pädagogische Maßnahme etwas. Artjom blieb sitzen und blinzelte vor sich hin. Fluchend packte ihn der Stalker an den Schultern, schüttelte ihn heftig und stellte ihn auf die Beine.
Allmählich kam Artjom wieder zu sich. Er schämte sich, dass er der Versuchung nicht widerstanden hatte. Betreten blickte er auf seine Füße und wagte es nicht, Melnik anzusehen. Zum Glück hatte dieser keine Zeit, ihm weiter die Leviten zu lesen, denn Nummer zehn, der die Straßenkreuzung überwachte, winkte ihn mit der einen Hand zu sich, während er ihnen mit der anderen bedeutete, keinen Lärm zu machen.
Als Melnik bei Nummer zehn ankam, schien er zu erstarren. Der Bärtige deutete in die vom Kreml abgewandte Richtung, dorthin, wo die ramponierten Hochhäuser des Kalinin-Prospekts wie faule Zähne aufragten. Vorsichtig trat Artjom zu den beiden Männern, und als er über die Schulter des Stalkers blickte, begriff er sofort, was los war.
Mitten auf dem Prospekt, vielleicht sechshundert Meter entfernt, standen im dichter werdenden Zwielicht drei unbewegliche menschliche Silhouetten. Waren es wirklich Menschen? Auf diese Entfernung hätte Artjom es nicht beschwören können. Jedenfalls waren sie durchschnittlich groß und standen auf zwei Beinen, was immerhin ermutigend war.
»Wer ist das?«, flüsterte Artjom heiser. Durch das angelaufene Sichtglas der Gasmaske sah er die Gestalten nur schemenhaft. Wenn es keine Menschen waren, so vielleicht jene menschenähnlichen Ausgeburten, von denen er bereits gehört hatte.
Schweigend schüttelte Melnik den Kopf. Offenbar wusste er auch nicht mehr. Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf die unbeweglichen Wesen, machte drei Kreisbewegungen und schaltete wieder aus. Als Antwort leuchtete von dort ebenfalls ein helles Licht auf, beschrieb drei Kreise und erlosch wieder.
Die Anspannung der Stalker löste sich, Melnik gab Entwarnung. »Es sind Stalker. Merk dir: Drei Kreise mit der Lampe - das ist unser Erkennungszeichen. Wenn man dir so antwortet, kannst du hingehen, man wird dir nichts tun. Wenn jemand jedoch gar nicht oder falsch zurückleuchtet, nimm die Beine in die Hand. Und zwar schnell!«
»Aber wenn sie eine Taschenlampe haben, bedeutet das doch, dass es Menschen sind und nicht irgendwelche Bestien«, erwiderte Artjom.
»Schwer zu sagen, was schlimmer ist«, bemerkte Melnik knapp und ging ohne weitere Erklärung die Treppe hinauf zum Eingang der Bibliothek.
Die schwere Eichentür, fast doppelt so hoch wie ein Mensch, gab langsam nach - die verrosteten Scharniere quietschten hysterisch. Melnik schlüpfte ins Innere, nahm das Nachtsichtgerät vor die Augen und hielt die Kalaschnikow bereit. Einen Augenblick später gab er den anderen ein Zeichen: Der Weg war frei.
Vor ihnen lag ein langer Korridor, an dessen Seiten verbogene Metallgestelle standen; früher war dies wohl einmal die Garderobe gewesen. Weiter hinten zeichneten sich im erlöschenden Tageslicht die weißen Marmorstufen einer breiten, nach oben führenden Treppe ab. Die Decke war gut fünfzehn Meter hoch, und auf etwa halber Höhe war das schmiedeeiserne Geländer der Galerie im ersten Stock zu erkennen. Eine zerbrechliche Stille herrschte in diesem Saal, so dass jeder Schritt laut widerhallte.
Die Wände der Eingangshalle waren mit Moos bewachsen. Es bewegte sich leicht - als ob es atmete. Von der Decke herab bis fast ganz auf den Boden hingen seltsame, lianenartige Pflanzen, deren armdicke Zweige im Schein der Taschenlampe glänzten. Ihre großen, abstoßenden Blüten verbreiteten einen stickigen und schwindelerregenden Geruch. Auch sie schwankten kaum merklich hin und her, und Artjom vermochte nicht zu sagen, ob es der Wind war, der durch die eingeschlagenen Fenster im ersten Stock drang, oder ob sie sich aus eigenem Antrieb bewegten.
Artjom berührte eine Liane und fragte Nummer zehn: »Was ist das?«
»Was wohl? Ein Begrünungsprojekt etwa?«, erwiderte dieser ironisch. »Zimmerpflanzen nach Bestrahlung. Toller Zuchterfolg, nicht wahr?«
Sie folgten Melnik bis zur Treppe und begannen, an die linke Wand gedrückt, mit dem Aufstieg, während Nummer zehn ihnen Deckung gab. Melnik ließ das schwarze Quadrat vor ihnen nicht aus den Augen - dort war der Durchgang zu den Sälen
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