Meuterei auf der Deutschland
und schließlich darüber abzustimmen. Tatsächlich konnten die Piraten unter anderem durch diese Maßnahme auf dem folgenden Parteitag im November 2010 in Chemnitz eine Erweiterung des Programms beschließen. Das Kernprogramm wurde – orientiert an der Vorarbeit, die der Landesverband Nordrhein-Westfalen im Rahmen der dortigen Landtagswahl erarbeitet hatte – vor allem um sozial-, bildungs-,umwelt- und wirtschaftspolitische Forderungen ergänzt (Piratenwiki 2010).
Von Anfang bis Mitte des Jahres 2011 blieb es um die Piratenpartei medial relativ ruhig. Allenfalls häuften sich Berichte über organisatorische Probleme, die exzessiven Satzungsdebatten und personelle Streitigkeiten. Sofern die Partei ansonsten überhaupt Schlagzeilen produzierte, waren diese ebenfalls wenig schmeichelhaft: Die Piraten wurden mit mutmaßlichen Hackerangriffen auf französische Atomkraftwerke in Verbindung gebracht (Reißmann 2011b; 2011c); das relativ prominente (Neu-)Mitglied Jörg Tauss wurde rechtskräftig wegen des Besitzes von Kinderpornografie verurteilt (o. V. 2010); und selbst das im Wahlkampf 2009 hervorgehobene Thema Datenschutz war innerparteilich auf einmal umstritten. Unter dem Schlagwort »Post-Privacy« wandte sich die sogenannte »datenschutzkritische Spackeria« um die Berliner Piratin Julia Schramm medienwirksam und dezidiert gegen den etablierten Datenschutz (Reißmann 2011a; Kloth 2011). Man verfügte in dieser Phase also weder über eine klare und gefestigte Struktur noch über eindeutige programmatische Positionen. Parallel dazu setzte zu allem Überfluss auch noch der Niedergang des schwedischen Vorbilds ein, Erfolge in anderen Ländern waren ebenfalls nicht zu erkennen. Das Schicksal der meisten neugegründeten Parteien in der Bundesrepublik schien über kurz oder lang auch die Piraten zu ereilen. Das Projekt drohte zu scheitern.
3. Der Hype: Der Berliner Siegeszug hinterlässt Spuren
Im Sommer 2011 wendete sich das Blatt jedoch, als sich mit den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus eine überaus günstige Gelegenheit darbot. In der Hauptstadt kamen einige wichtige Faktoren zusammen: Die Piraten verfügten dort über eine relativ starke Mitgliederbasis und profitierten von der Überschaubarkeit eines Stadtstaates. Zudem hatte sich Berlin bereits zuvor als elektorale Hochburg entpuppt. Zwar verzerrt die geringe Wahlbeteiligung in den »Szenebezirken« die Ergebnisse, doch die Partei hatte dort bei der Europa- und bei der Bundestagswahl 2009 überdurchschnittlich gut abgeschnitten. Flankiert wurde all das durch die Einbindung in die subkulturellen Trends und Moden der Hauptstadt. Die für die Piraten charakteristische Verankerung in der Netzkultur wirkte in Berlin weniger exotisch als in anderen Teilen der Republik. Vielmehr wurden die Piraten hier als natürlicher Teil eines Submilieus wahrgenommen, das in der Hauptstadt der deutschen Netzpolitik über Jahre gewachsen war (Bieber 2012, S. 32).
Der Wahlkampf der Berliner Piraten bestach durch eine damals noch unverbrauchte Mischung aus Improvisation, Unkonventionalität und subkultureller Ästhetik. Man kombinierte organisatorisches Geschick mit programmatischen Forderungen, die sich an den Konflikten der Lokalpolitik orientierten und klug auf die zerklüftete Wählerlandschaft der Hauptstadt zugeschnitten waren. Mit vor allem urban-sozialen und liberal-emanzipatorisch orientierten Maximen gelang es, einen Bogen zu spannen, der sowohl linksradikale Kritik als auch die Forderungen liberaler Selbstständiger, die spezifischen Anliegen der Internetkultur als auch den Unmut allerlei heterogener Protestgruppen abdeckte.
Kurzum: Die Berliner Piraten schafften es, sich im Parteienwettbewerb als attraktiver Außenseiter zu platzieren. Nachdem der Partei in den Umfragen Chancen attestiert wurden, ins Abgeordnetenhaus einzuziehen, setzte sich zum einen eine Spirale der medialen Aufmerksamkeit in Gang, und zum anderen war damit der wahlpsychologisch bedeutsame Vorwurf vom Tisch, jede Stimme für die Piraten sei vergeudet. Wie stark diese Dynamik war, zeigte sich am Wahlabend: Mit 8,9 Prozent enterten die Piraten nicht nur das Berliner Abgeordnetenhaus, sondern sie katapultierten sich außerdem in sämtliche Berliner Bezirksverordnetenversammlungen. Selbst die innerberlinerischen Differenzen zwischen urbanen Kiezbezirken mit mutmaßlich höherer Piratenpräferenz und bürgerlichen Quartieren mit einem kritisch-distanzierten Verhältnis waren bei dieser Wahl nicht
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