Meuterei auf der Deutschland
sonderlich stark ausgeprägt (Borchard/Stoye 2011, S. 14 f.).
Nahm man das Wahlergebnis etwas genauer unter die Lupe, konnte jedoch keineswegs als ausgemacht gelten, dass sich der Trend in der gesamten Republik fortsetzen würde – im Gegenteil sprach einiges dafür, dass es sich um ein »berlinspezifisches« Ereignis handelte (Niedermayer 2012, S. 25): Gerade in Stadtstaaten fällt es Kleinparteien in der Regel leichter, ohne gewachsene und verdichtete Fundamente Erfolge zu erzielen. Zudem war es für einen Teil der Berliner Wähler wichtig, eine rechnerisch mögliche Koalition zwischen CDU und Grünen zu verhindern. Im Lichte solcher Überlegungen lag es nahe, die Piraten mit kurzlebigen Phänomenen wie der Bremer Partei »Arbeit für Bremen und Bremerhaven« ( AfB ) und der Hamburger STATT Partei zu vergleichen. Getragen von der Unzufriedenheit mit den etablierten Akteuren, hatten diese in den neunziger Jahren ebenfalls Anfangserfolge erzielt, bevor sie nach einer Wahlperiode wieder aus den Parlamenten verschwanden. Allerdings waren sich Beobachter dennoch sicher, dass für die netzpolitischen Anliegen der Piraten unzweifelhaft ein Resonanzboden existierte (Borchard/Stoye 2011, S. 18 f.). Ob das allerdings ausreichen würde, um flächendeckend und dauerhaft in Parlamente einzuziehen, war alles andere als klar.
Auf jeden Fall beschleunigte der Erfolg in Berlin in vielerlei Hinsicht die Entwicklung der Gesamtpartei. In den Folgemonaten kam es abermals zu einem sprunghaften Mitgliederzuwachs, Zusammensetzung und Charakter der Basis veränderten sichspürbar. Bei den Neu-Piraten vermischten sich zunehmend Idealismus und Karriereinteressen, was etwa im Vorfeld der Wahl in Nordrhein-Westfalen und bei der Kandidatenaufstellung in Niedersachsen deutlich wurde.
Mit der explosiven Mitgliederentwicklung erweiterte sich auch die Themenpalette der Partei, allerdings ohne dass das inhaltliche Profil dadurch an Kontur gewonnen hätte. Sozial- und bildungspolitische Themen stehen mittlerweile höher im Kurs, die Identifikation mit den ursprünglichen Inhalten der Partei hat sich im Gegenzug deutlich verringert. Dies gilt insbesondere, seit ehemalige Anhänger der Linken oder der Grünen in die Partei drängen. Dass die netzpolitischen Kernthemen der Piraten in den Hintergrund getreten sind, drückt sich aktuell sowohl im verhältnismäßig schwachen Auftritt im Rahmen der aktuellen Urheberrechtsdebatte als auch in dem Umstand aus, dass die Partei bei den Protesten gegen das ACTA -Abkommen verblüffend spät präsent war.
Auf dem Parteitag im Dezember 2011 in Offenbach nahm die Bundespartei, auch orientiert am Erfolgskonzept der Berliner Piraten, unter anderem die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen, der konsequenten Trennung von Staat und Kirche und der Legalisierung weicher Drogen in ihr Programm auf (Bieber 2012, S. 29). Damit führten die Piraten die schleichende programmatische Ausweitung fort und versuchten auch auf Bundesebene, ihre Monopolstellung als attraktiver parteipolitischer Außenseiter zu stärken (Hensel 2012b). Seit dem Berliner Wahlerfolg erreicht die Piratenpartei zudem in den bundesweiten Umfragen beständig deutlich mehr als fünf Prozent. In Bund und Ländern liegen die Piraten meist deutlich vor der FDP und den Linken und zum Teil sogar auf dem Niveau der Grünen. Für das Superwahljahr 2013 mit Landtagswahlen in Niedersachsen, Bayern und Hessen sowie der Bundestagswahl rechnet man sich nach den Erfolgen von 2012 beste Chancen aus. Die Piraten schafften es im Frühjahr diesen Jahres nämlich endgültig aus dem für nicht etablierte Kleinparteien typischen Teufelskreis aus mangelnder medialer Berichterstattung und geringer Bekanntheit heraus – so scheint es jedenfalls.
Die freundlichen Aussichten der Partei haben aber deutliche Schattenseiten. So stellt sich inzwischen erstmals die Frage, ob das Vollversammlungsprinzip weiterhin bei allen Parteitagen durchzuhalten sein wird. Immerhin stand der Landesparteitag in Nordrhein-Westfalen kurz davor, an den fehlenden Zeitressourcen zu scheitern. Rund 40 Piraten hatten im Vorfeld ihre Bereitschaft erklärt, für den ersten Listenplatz zu kandidieren. Durch das erst auf dem Parteitag beschlossene Verfahren, die ersten vier Kandidaten möglichst in einem Wahlgang zu wählen, hoben am Ende sogar 56 Kandidaten den Arm, um ihren Anspruch auf die Spitzenkandidatur zu bekunden. Weitere 100 bis 150 Personen drängten auf die folgenden Listenplätze.
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