Meuterei auf der Deutschland
»Kandidatengrillen«, dem sich Bewerber für Führungsaufgaben oder Listenplätze unterziehen müssen, erinnert oft an eine Mischung aus chinesischer Kulturrevolution und Schulsprecherwahl. Dabei geht es in aller Regel darum, Kandidaten mit einer beinahe inquisitorischen Fragetechnik nach Möglichkeit in die Enge zu treiben (Henzler 2012; Wallbaum 2012). Zwar wurde das Verfahren angesichts der Notwendigkeit, in Anbetracht der schieren Kandidatenmassen effizienter zu agieren, mittlerweile modifiziert, am Kern der eher de-struktiven, von Argwohn geprägten Prozedur hat sich jedoch wenig geändert. Nach wie vor kann sich eine ganz spezielle, unberechenbare Dynamik entfalten, die durch die parallel zur Debatte auf dem Parteitag stattfindende virtuelle Kommunikation über Twitter noch verstärkt wird. Gerade erfahrenen Piraten, die schon länger mit diesem Instrument vertraut sind, gelingt es dabei häufig, die Stimmung im Saal in ihrem Sinne zu manipulieren.
Inhaltlich geht es beim »Kandidatengrillen« meist um drei, vier immer wieder gestellte Fragen, von denen man weiß, dass sie einen entsprechenden Widerhall erzeugen. Die Bewerber müssen sich zu LiquidFeedback oder zur Forderung nach dem bedingungslosen Grundeinkommen erklären. Im Zweifelsfall bekennen sie sich dann zur uneingeschränkten Programmtreue und geloben,zugunsten des Vollzugs der Parteibeschlüsse auf eigene inhaltliche Positionen zu verzichten. Durch die permanenten Verweise auf den bisherigen Stand der programmatischen Diskussion macht die angeblich so offene Partei deutlich, dass der Individualität und Meinungsvielfalt in Wirklichkeit klare Grenzen gesetzt sind. Es gibt bei den Piraten zwar unterschiedliche Meinungen und Positionen, was durch den hybriden Organisationsaufbau auch unterstützt wird. Sobald jedoch nach langwierigen basisdemokratischen Aushandlungsprozessen in bestimmten Fragen so etwas wie Konsens erreicht worden ist, werden abweichende Meinungen immer seltener gebilligt. Das gilt insbesondere dann, wenn es um die Besetzung von Führungspositionen geht: So sah sich etwa die als datenschutzkritisch bekannte Julia Schramm gehörigem Gegenwind ausgesetzt, als sie 2012 für den Bundesvorstand kandidierte.
Wer dieses Verfahren durchlaufen hat, gibt sich nicht selten so wie der aktuelle politische Geschäftsführer Johannes Ponader, der unmittelbar nach seiner Wahl erklärte, er werde sich an inhaltlichen Debatten nicht beteiligen und lediglich die Beschlusslage der Partei vertreten. Existiere zu einem Thema keine gemeinsame Position, werde er schweigen. Das hat zur Folge, dass Ponader sich sogar bei Abstimmungen im Bundesvorstand enthalten will, solange es bei LiquidFeedback kein klares Meinungsbild zum betreffenden Punkt gibt. Dabei geht es wohlgemerkt nicht allein um Grundsatzfragen, sondern zum Beispiel auch um die Koordination von Terminen oder die Erstattung von Reisekosten.
Für programmatische Arbeit haben die Vorstände allerdings ohnehin nur wenig Zeit. Das ehrenamtlich tätige Personal hat schlicht zu viele und zu umfangreiche organisatorische wie repräsentative Aufgaben zu bewältigen, die auf nur wenige Schultern verteilt werden können. So bestehen die Führungsgremien der verschiedenen Ebenen in der Regel aus einem Vorsitzenden, einem Stellvertreter und einem Schatzmeister. Dazu kommen auf der Bundesebene ein weiterer Stellvertreter, ein vorwiegend mit organisatorischen Fragen betrauter Generalsekretär, ein politischer Geschäftsführer sowie drei Beisitzer. Die Funktionszuweisung und die strukturelle Dynamik der Rekrutierung sind darauf angelegt, Personen zu nominieren, die in erster Linie in die Partei hineinwirken und ihre persönliche Überzeugung zugunsten der basisdemokratisch entwickelten Positionen hintanstellen, ein Rollenverständnis, das sich tatsächlich die meisten Amtsinhaber zu eigen machen. Deutlich wird das beispielsweise in den Rechenschaftsberichten scheidender Vorstandsmitglieder. Hier werden nicht in erster Linie politische Erfolge oder programmatische Fortschritte dargelegt, vielmehr wird Bilanz über organisatorische Aktivitäten gezogen. Dazu gehören zuweilen die Auflistung der abgehaltenen Vorstandssitzungen oder Erläuterungen darüber, wann und wie viele Briefe etikettiert wurden. Nach der vorherrschenden Meinung sollen die ehrenamtlichen Vorstandsmitglieder eben die organisatorischen Belange regeln, die für Bestand und Funktionalität der Parteiorganisation erforderlich sind. Inhalte,
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