Meuterei auf der Deutschland
Positionen, aber auch Strategien, Kampagnenmaterialien und Ähnliches sollen andernorts erarbeitet werden. Auch wenn aus dem Bundes- und den Landesvorständen Forderungen nach einer stärkeren programmatischen Ausrichtung zu vernehmen sind, können sich diese derzeit gegen das von der Basis kultivierte Prinzip der Selbstorganisation nicht durchsetzen. Dementsprechend sind die Vorstände auch nicht in der Lage, die Aufgaben zu erfüllen, welche die regelmäßig tagenden Vorstände anderer Parteien abarbeiten, etwa die Koordination verschiedener Machtzentren und regionaler Teilgliederungen oder die Stimulierung und Strukturierung der innerparteilichen Willensbildung. Das gelingt in Ansätzen allenfalls in Bezug auf Wahlkampfaktivitäten.
Infolge dieser oftmals vor-organisatorisch anmutenden Struktur wirkt vieles improvisiert. Das Programm macht über weite Strecken einen erratischen Eindruck, ist auf wichtigen Feldern lückenhaft und teilweise etwas uninspiriert. Die Wahlprogramme gleichen ebenfalls Flickwerken, sie folgen keiner konsistenten Leitidee und sind sprachlich nicht sonderlich ansprechend oder elaboriert. Werbematerialien und die Dramaturgie der Kampagnen folgen keinem Spannungsbogen und werden nicht strategisch zugespitzt. Überall dort, wo die strukturierende Hand eines Vorstands oder eines Parteiapparats fehlt, dilettiert die Basis.Diese in Teilen problematische Organisationskultur hat dem Erfolg der Partei bislang allerdings nicht gravierend geschadet und legitimiert sich oft aus der Erfahrungswelt der Mitglieder als Angehörige der Internetkultur.
Mit der Betonung von Werten wie Offenheit, Dezentralität und selbstorganisierte Vernetzung, die für die kollaborative Netzkultur typisch sind (Castells 2005, S. 47 ff.), erinnert die Piratenpartei in vielerlei Hinsicht an die Online-Enzyklopädie Wikipedia. Allerdings ist das hier praktizierte Modell eines Schwarms keine Garantie gegen gravierende Fehlentscheidungen. Auf Wikipedia sind selbst Beiträge zu Themen und Personen, die große Aufmerksamkeit und viele prüfende Blicke auf sich ziehen, anfällig für Fehler und Manipulationsversuche (Stegbauer 2009, S. 174). Zudem entsteht auch in Schwärmen nicht selten eine informelle Hierarchie oder gar eine Oligarchie, die sich nicht unbedingt aus der Qualität der geleisteten Arbeit ableitet, sondern eher aus der schieren Anzahl der Beiträge. Dies ist ein entscheidender Kritikpunkt an der vorgeblichen Effizienz und Intelligenz von Schwärmen. Sie bringen oft nichts genuin Neues hervor, sondern reproduzieren vorhandenes Wissen, arrangieren es bestenfalls neu (Lanier 2010, S. 162).
Dieses Phänomen zeigt sich auch bei der Piratenpartei. In der Praxis haben sich die Vorstände, vor allem in den Ländern, damit auseinanderzusetzen, dass es zwar nicht an Angeboten mangelt, das Design der Homepage zu gestalten oder die technische Umgebung zu verbessern, dass sich jedoch seltener Piraten aufdrängen, um fundierte programmatische Impulse zu liefern. Deswegen klaffen Anspruch und Wirklichkeit des Organisationskonzepts vielfach auseinander. Hinzu kommt: Gerade die Teilnahme an der innerparteilichen Kommunikation via Internet lässt sich überaus leicht in den Alltag der Mitglieder integrieren. Die Piraten profitieren so einerseits von ihrer offenen und informellen Infrastruktur; andererseits sehen sie sich aber der Gefahr der Unverbindlichkeit und Flüchtigkeit gegenüber, und es fehlt an Mechanismen, um effizient Regie zu führen oder die Mitglieder in die Pflicht zu nehmen.
Die Partei funktioniert dann besonders gut, wenn man bewährte Instrumente einfach übernehmen kann, wenn es ein klares Ziel gibt oder wenn Anforderungen an sie herangetragen werden. Doch wer setzt diese Impulse? Praktisch sind dafür oftmals Anstöße von außen notwendig, Wahltermine beispielsweise. In der parlamentarischen Arbeit bedienen sich die Piraten der Schwarmintelligenz, um Vorlagen und Anträge der Konkurrenz zu attackieren oder zu verändern. Solche Prozesse erfolgen dann aber nicht basisdemokratisch, sondern hierarchisch, sie werden von einer Funktionselite gesteuert, die durch die Parlamentsarbeit privilegierten Zugang zu Informationen besitzt und über freie Zeitressourcen verfügt; Prozesse von unten hingegen versanden regelmäßig.
An dieser Stelle fehlt ein effizienter Modus der Konzentration und Zusammenführung der dezentralen Aktivitäten, die online wie offline nebeneinanderher laufen. Konkrete Vorschläge können nur an
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