Meuterei auf der Deutschland
in den ersten zehn Jahren die Vorstandssprecher der Grünen einen großen Anteil der medialen Präsenz vereinnahmten und eine gewisse Strahlkraft besaßen, die für die Selbstvergewisserung der Partei wichtig war, wurden bald die Fraktionen zu den eigentlichen innerparteilichen Machtzentren. Die Vorstände behielten zumindest als Karrieresprungbretter noch eine gewisse Relevanz. In deutlich schnellerem Tempo scheint sich bei den Piraten gegenwärtig eine ähnliche Machtverlagerung zu vollziehen. Deutlich wird das am (möglicherweise nur vorübergehenden) Rückzug von Marina Weisband, der man vielleicht eine ähnliche Rolle zubilligen mag wie der ikonenhaften Petra Kelly bei den Grünen.
Derzeit scheint es bei den Piraten kaum noch Personen mit vergleichbarem Charisma zu geben. An der Spitze der Partei steht seit dem letzten Parteitag Bernd Schlömer, ein Beamter aus dem Verteidigungsministerium. Sein Stellvertreter ist der bisherige Bundesvorsitzende Sebastian Nerz. Der Bioinformatiker gehört zu den wenigen Piraten, die bereits in anderen Parteien Erfahrung gesammelt haben. Für die CDU hatte er gar – obschon erfolglos – für den Tübinger Stadtrat kandidiert. Ihm zur Seite steht mit Markus Barenhoff ein Pirat der ersten Generation. Barenhoff stammt wie der ehemalige Vorsitzende Seipenbusch und Marina Weisband aus Münster, der heimlichen Kapitale der Partei. Dazu kommt der politische Geschäftsführer Johannes Ponader. Der Schauspieler und Regisseur, der zuvor in der Occupy-Bewegung aktiv war, gehört ebenso dem Landesverband Berlin an wie die beiden Beisitzer Klaus Peukert und Julia Schramm. Ein impliziter Machtanspruch der gut vernetzten Berliner ist insoweit unverkennbar.
Außerhalb des Bundesvorstands genießen einige weitere Piraten erhöhte öffentliche Aufmerksamkeit. Als Gesicht der Berliner Fraktion galt kurzzeitig der inzwischen zurückgetretene parlamentarische Geschäftsführer Martin Delius. Der Fraktionsmitarbeiter Stephan Urbach oder die beiden Spitzenkandidaten in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein, Joachim Paul und Torge Schmidt, stehen ebenso regelmäßig auf den Gästelisten von Talkshows und geben ausführliche Zeitungsinterviews. Nachgerade omnipräsent ist der Berliner Abgeordnete Christopher Lauer, dessen Rolle in der Partei immer wieder mit der Joschka Fischers bei den Grünen verglichen wird.
Die Piraten verfügen im Moment also über eine Reihe von Köpfen, die öffentlich wahrgenommen werden. Ein klares, demokratisch legitimiertes Führungszentrum hat die Partei allerdings derzeit nicht. Sie verlässt sich auf ihre Fähigkeit zur Eigenorganisation und nimmt dafür in Kauf, dass die Fraktionen, vor allem die in Berlin, an Macht und Einfluss gewinnen. Ob dieses informelle Modell auf Dauer ausreicht oder ob es tiefer gehende Spannungen zur Folge haben wird, bleibt abzuwarten.
3.2 Wirklich kein Programm?
Der gegenwärtig am häufigsten erhobene Vorwurf gegen die Piraten lautet, die Partei habe kein Programm. Indes: Die CDU kam über 30 Jahre ohne Grundsatzprogramm aus und erreichte gleichwohl – oder vielleicht gerade deswegen – fulminante Wahlergebnisse. Sicher verfügen mittlerweile alle etablierten Parteienüber Grundsatz- und Wahlmanifeste, doch akkurat programmtreu verhalten sie sich ihrerseits selten. Selbst in der auf ihre programmatische Gründlichkeit lange Zeit stolzen SPD wirkten die endlosen Beratungen der entsprechenden Kommissionen oft eher wie eine Beschäftigungstherapie für unterbeschäftigte Aktivisten einer Oppositionspartei. Im Falle einer Regierungsbeteiligung war der programmatische Fundus der Partei hingegen selten ausreichend und bildete keineswegs die verbindliche Richtschnur für das Handeln der Exekutive.
Im Lichte dessen könnte man geneigt sein, den an die Piraten gerichteten Vorwurf gleich an die etablierten Parteien zurückzureichen. Doch hinter der Frage nach der programmatischen Orientierung steckt weitaus mehr als die buchstabengetreue Umsetzung von Konzepten und Visionen. Trotz des unverkennbaren Trends einer Entideologisierung, vor allem der Großparteien, sind Leitideen, Prinzipien, Wertvorstellungen und Weltanschauungen nach wie vor wichtig. Über die individuellen materiellen Interessen der Mitglieder hinaus bieten sie nicht nur einen überwölbenden Sinn- und Bedeutungszusammenhang, sie dienen auch als Grundlage für die Erarbeitung eines konkreten politischen Programms und legitimieren das Handeln einer Partei und ihrer Vertreter
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