Mexiko, mein anderes Leben (German Edition)
Okanagansee an. Hier wollten wir endgültig entscheiden, ob wir die Stellung als Managerehepaar annehmen würden, nachdem wir live erlebt hätten, was uns erwarten würde. Wir bezogen das Gästezimmer und waren begeistert. Unser Zimmer hätte nicht besser sein können und der wirklich gigantische Blick auf die Berge British Columbias war faszinierend.
Todmüde fielen wir am späten Abend ins Bett, doch heulende Sirenen rissen uns nach drei Stunden Ruhe aus dem Tiefschlaf. Beim Blick aus dem Fenster sahen wir vor dem Haus die Feuerwehr, Krankenwagen und zwei Polizeiautos. Wir rätselten, warum zehn Einsatzkräfte sich bemühten, in das Haus einzudringen. Mir selbst blieb bei diesem Anblick fast mein Herz stehen. Bald erfuhren wir den Grund. Eine Heimbewohnerin hatte den Notruf ausgelöst. Als die Helfer in das Zimmer der alten Dame gelangten, wurden sie von dieser fröhlich auf dem Bett sitzend mit den Worten empfangen: „Schön, dass ihr so schnell gekommen seid, denn ich kann meine Zähne nicht finden! Die brauche ich aber, um morgen zu frühstücken!“
So lustig es sich liest, dieses Erlebnis sorgte für eine erste Ernüchterung. Es sollte aber nicht die einzige bleiben. Doch zunächst schien sich alles zum Guten zu wenden. Selbst die alte Dame kaute mit ihren wiedergefundenen Zähnen am nächsten Morgen friedlich an ihrem Spiegelei. Doch da äußerte sie plötzlich lautstark einen Verdacht: Ihr Tischnachbar habe ein größeres Ei erhalten. Plötzlich entstand im Frühstücksraum ein regelrechter Aufstand. Alle Bewohner mussten plötzlich kontrollieren, ob das ihnen zugewiesene Spiegelei nicht kleiner sei, als das der anderen. Der Raum war ausgefüllt von heftigem und lautem Gezeter. Die Köchin in der Küche war mit ihren Nerven am Ende und wollte nur noch weg. Durch intensives und gutes Zureden konnten wir sie überzeugen, doch zu bleiben. Diese Streiterei ging den ganzen Tag weiter. Bei meiner Arbeit im Kindergarten hatte ich ja schon vieles erlebt, doch niemals ein solches Szenario. Am Nachmittag musste ein älterer Herr gesucht werden, der zur Dialyse gefahren werden sollte. Er wurde im Garten gefunden, wo er Händchen haltend mit einer älteren Dame auf einer Bank in einer lauschigen Ecke saß. Er sträubte sich mit allen Mitteln gegen diese Fahrt, dafür wäre jetzt keine Zeit. Das ältere Paar wollte diesen schönen Moment erst richtig auskosten. So schwanden unsere Illusionen über eine Zukunft in Kelowna dahin, denn für uns war dies alles einfach nervenaufreibend. Aber so schnell wollten wir nun doch nicht aufgeben.
In der Nacht wurden wir wieder durch das schrille Geläut einer Glocke aus dem Tiefschlaf gerissen. Diesmal war es eine andere Bewohnerin des Hauses, die für Unruhe sorgte. Sie konnte nicht schlafen und verlangte daher – es war vier Uhr morgens – dass ihr jemand vorlesen sollte. So ging ich morgens nach einer weiteren fast schlaflosen Nacht zu unserem Fenster. Doch bevor mein Blick zum Horizont zu den herrlichen Bergen schweifte, sah ich etwas anderes. Ein Leichenwagen stand unten im Hof. Die alte Dame mit dem angeblich zu kleinen Spiegelei war in der Nacht an einem Herzinfarkt verstorben. Sie wurde gerade abgeholt. Nach diesen Ereignissen waren wir nun an einem Punkt angekommen, wo uns klar war: So können und wollen wir nicht leben. Es hieße, niemals richtig abschalten zu können, weder „nein“ sagen zu können, noch einfach festzustellen: Jetzt ist Feierabend. Trotz meiner Liebe zu alten Menschen und meinem Wunsch ihnen zu helfen, war diese Aufgabe ein Ding der Unmöglichkeit. Überdies gab es hier nicht einmal Dankbarkeit zu spüren, sondern lediglich Forderungen. Also packten wir unsere Sachen und suchten uns eine Pension. Erschöpft und desillusioniert schliefen wir eng umschlungen ein.
Als es hell wurde, kam uns mit der aufgehenden Sonne die nächste, diesmal viel abenteuerlichere Idee, wo wir unser gemeinsames Leben verbringen wollten. In Mexiko!
Zuerst wollten wir uns jedoch von den Erlebnissen der letzten Tage erholen, für den Moment leben und diesen genießen. Einfach nur im Hier und Jetzt sein und die ungewisse Zukunft ausblenden. Außerdem hatte ich ja noch zwölf Tage Urlaub und genug Zeit, damit mir Robert einen Teil seiner zweiten Heimat zeigen konnte, und Kanada ist wirklich ein wunderschönes Land. Ich hätte nie geglaubt, mich in der Fremde so wohlfühlen zu können. Wir schwebten weiter auf
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