Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
den Zeitpunkt ihrer Ankunft ausgerechnet. Also warteten wir auf sie, aber sie trafen nicht ein. Mit jedem Auto, das in unserem Dorf ankam, und das waren damals nicht viele, wurden wir nervöser. Jedes Mal war es jemand anderes. Nach einer Woche qualvollen Wartens kam schließlich ein Anruf aus Deutschland. Ein Bruder meines Vaters rief an und berichtete mit gequälter Stimme, was passiert war.
Wie alle Türken, die mit dem Auto nach Hause fuhren, nahmen auch unsere Verwandten aus Dortmund die Strecke über Jugoslawien. Der Autoput war damals ebenso berühmt wie berüchtigt. Die Autobahn, eigentlich nur eine ausgebaute Landstraße, war immer stark befahren. Vor allem in den Sommermonaten stauten sich die Autoschlangen oft über viele Kilometer. Dazu kam ihr extrem schlechter Zustand – sie hatte teilweise knietiefe Schlaglöcher. All dies machte sie zu einer der gefährlichsten Strecken Europas. Dazu kam, dass viele zu schnell und völlig übermüdet fuhren, weil sie alle möglichst schnell nach Hause wollten. Auf jeden Fall ereigneten sich jedes Jahr viele Unfälle, was den Abschnitt zwischen Zagreb und Skopje zur reinsten Todesstrecke machte. Vaters Cousin war schon über achtzehn Stunden unterwegs, als sich in der Nähe von Belgrad der Unfall ereignete. Ein LKW hatte das Auto bei einem Überholmanöver übersehen undan der Leitplanke zerquetscht. Die drei Insassen waren sofort tot gewesen.
Anstatt meiner Hochzeit gab es Ende Juli 1978 deshalb eine Totenfeier. Unsere Familie hatte drei Verwandte auf einen Schlag verloren. Zur Beerdigung kamen auch viele Verwandte aus Deutschland. So war es doch noch ein großes – wenn auch ein trauriges – Familientreffen geworden.
Für mich war das Ganze natürlich furchtbar traurig. Anstatt meiner Hochzeit fand nun im Dorf eine große Beerdigung statt. Vater und auch Tante Songül, meine künftige Schwiegermutter, waren der Meinung gewesen, dass man unter solchen Umständen keine Hochzeit feiern konnte. Drei Tage nach der Beerdigung gingen wir also aufs Standesamt und ließen uns trauen. Das war eine traurige Veranstaltung, an die ich mich nur noch dunkel erinnere. Ich weiß nicht einmal mehr, wer außer den beiden Elternpaaren noch dabei war. Die Zeremonie war kurz und ziemlich nichts sagend. Aber bei uns ist die standesamtliche Trauung eher nebensächlich. Das Wichtigste bei einer türkischen Hochzeit ist immer die Feier selbst. Und meine Hochzeit sollte nun nicht zu Hause in meinem Dorf stattfinden, sondern ein paar Wochen später im fernen Deutschland.
Wieder hatte mich niemand gefragt, ob ich das auch wollte. Wie immer setzte man voraus, dass ich mich dem Willen der anderen beugen würde. Das tat ich auch, aber gefallen hat es mir nicht. Viel lieber hätte ich mit meiner Familie zu Hause gefeiert, aber das ging nun nicht. Nachdem wir die Formalitäten erledigt hatten, die Beerdigung und Trauung hinter uns lagen, ging alles ganz schnell. Meine Schwiegereltern hatten schon die Flugtickets für uns alle gekauft, so dass nun der Abschied kam. Ich musste mein Dorf, meine Familie verlassen. Das war furchtbar. Tagelang habe ich nur geweint. Wenn uns niemand beobachtete, lagen meine Mutter und ich uns in den Armen. Ich glaube, für sie war es genauso schlimm wie für mich.
Damals bin ich alle Plätze abgelaufen. Ich bin noch einmal hoch in die Berge und habe über unser Tal geschaut. Der Abschiedsschmerzhat mir schier das Herz zerrissen. Tränen liefen mir über mein Gesicht, Schluchzen kam aus meiner Kehle. All die glücklichen Momente, die ich hier oben mit Fidan erlebt hatte, gingen mir durch den Kopf. Wie sollte ich in einem völlig fremden Land leben können, ohne unsere Hügel und Berge, ohne die Felder und Wiesen? Ich war sicher, dass ich das nicht überleben würde. Mustafa, der ja jetzt mein Ehemann war, fand mich, glaube ich, ziemlich komisch. Er verstand überhaupt nicht, was ich da machte. Auch er würde bald das Dorf verlassen, aber er schien nicht einmal darüber nachzudenken. Für ihn war es etwas anderes, er lebte damals schon seit sieben oder acht Jahren in Deutschland, Heimweh nach der Türkei hatte er nur selten.
Nachdem ich mich also von all den Orten meiner Kindheit verabschiedet hatte, musste ich Abschied von den Menschen nehmen. Besonders schwer fiel mir das Lebewohl von meinen Großeltern. Sie und die Mühle waren immer mein Zufluchtsort gewesen, wie konnte ich sie verlassen? Oder meine Geschwister? Vor allem meinen Bruder würde ich vermissen,
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