Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
meine Schwester weniger. Wir hatten nie eine besonders gute Beziehung gehabt. Auch Vater würde mir nicht fehlen. Im Gegenteil, ich war froh, ihn loszuwerden. Damals wusste ich freilich nicht, gegen wen ich ihn eintauschte. Am schwersten aber fiel mir der Abschied von anne . Tage vor unserer Abreise schmerzte mir das Herz, wenn ich nur daran dachte. Aber noch war es nicht so weit. Ich hatte noch eine kleine Schonfrist – die Eltern würden uns nach Istanbul begleiten.
Ende Juli 1978 war es dann so weit. Ich hatte meine Habseligkeiten in einer kleinen Tasche verstaut – viel war es nicht, eine Hose, ein Kleid, zwei Röcke, eine paar Blusen und ein paar Unterhosen. So stand ich nun auf der Terrasse unseres Hauses. Es war sechs Uhr abends, unser Bus nach Istanbul würde in einer Stunde losfahren. Alle waren gekommen, die Großeltern, Onkel und Tanten, die Cousins und Cousinen, die Freundinnen und die Nachbarn. Mindestens zwanzig oder dreißig Leute waren versammelt. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, obwohl sich die meistenfür mich freuten, waren sie auch traurig, manche weinten sogar. Auch ich war völlig hin- und hergeris sen. Ein Teil von mir wollte bleiben, der andere wollte gehen. Was mit Mustafa war? Ich habe überhaupt keine Erinnerung mehr an ihn. Auch was seine Mutter und sein Vater gemacht haben, habe ich vergessen. Ich weiß nur noch, dass wir sechs irgendwann an diesem Abend in einem großen Reisebus saßen und auf dem Weg nach Istanbul waren.
Meine Mutter und ich saßen nebeneinander und hielten uns an den Händen. Der Bus war zwar ziemlich alt, aber längst nicht so klapprig wie die, die bei uns von Dorf zu Dorf fuhren. Dennoch war die Fahrt höllisch. Viele Stunden fuhren wir auf engen, schlechten Straßen, quer durch Anatolien. Hin und wieder hielt der Busfahrer an, so dass die Passagiere sich die Beine vertreten oder aufs Klo gehen konnten. Draußen war es dunkel, wir konnten nichts sehen, aber das war anne und mir sowieso egal. Eng aneinander gekuschelt, saßen wir in den Sitzen und haderten mit unserem Schicksal.
Fünfzehn, sechzehn Stunden später erreichten wir Istanbul. Es war vormittags, und auf den Straßen der Stadt herrschte reger Verkehr. Obwohl ich die Nacht kaum geschlafen hatte, war ich hellwach und furchtbar aufgeregt. So viele Autos hatte ich noch nie gesehen. Auch die großen Häuser, und die Läden und die vielen Menschen. Das war alles neu für mich. So viel Trubel hatte es in meinem ganzen Leben noch nicht gegeben. Am Istanbuler Busbahnhof angekommen, wurde unser Gepäck ausgeladen, und jetzt mussten wir den Anschlussbus suchen. Denn ein städtischer Bus sollte uns weiter zu Mustafas Großmutter bringen. Sie war die Mutter seiner Mutter, die ich noch von früher kannte. Als wir noch Kinder waren, hatte sie auf dem Land gelebt. Mustafa war bei ihr im Dorf, zwei Stunden von Ballidere entfernt, aufgewachsen. Vor ein paar Jahren hatte sie sich in Istanbul niedergelassen. Bei ihr würden wir die nächsten zwei Tage verbringen, bis wir endgültig nach Deutschland abreisten.
Das Haus der Großmutter lag in Beylerbeyi , dem asiatischenTeil von Istanbul. Dort hatten sich damals viele gecekondus gebildet. Das waren jene Stadtviertel, die seit den 60er Jahren wie Pilze aus dem Boden schossen. Die Menschen, die vor der Armut auf dem Land in die Stadt flüchteten, bauten sich quasi über Nacht eine Hütte aus Brettern und Blech zusammen, stellten ihre Habseligkeiten unter und gingen am nächsten Tag auf Arbeitssuche. Später dann wurden diese Hütten in richtige Häuser mit einem Betonfundament und Wänden aus Stein umgebaut. Auch Strom und Wasser wurden erst nach und nach verlegt. Diese Siedlungen waren illegal, aber die Stadtverwaltung von Istanbul hatte nie wirklich etwas dagegen unternommen.
Nein, Mustafas Großmutter lebte nicht in einer Bretterhütte. Sie hatte mit dem Geld von Tochter und Schwiegersohn aus Deutschland ein Grundstück am Rande eines gecekondus gekauft und mit Hilfe ihrer anderen Söhne angefangen zu bauen. Als wir damals zu Besuch waren, war das Haus zweistöckig und notdürftig verputzt, aber für unsere Verhältnisse ziemlich luxuriös eingerichtet. In der Zwischenzeit besteht das Gebäude aus vier Stockwerken, und ein zweites Haus in der Nähe ist dazugekommen. Ein Teil von Tante Songüls und Onkel Ahmeds Clan lebte dort das ganze Jahr über, die anderen verbrachten immer nur den Sommer dort. In diesem Jahr hatten meine Schwiegereltern ihre vier
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