Mich hat keiner gefragt - Mich hat keiner gefragt
dass ich so spät kam. Kemal fragte aufgebracht, wo denn die Mädchen seien. Ich erklärte ihm, dass sie noch in die Stadt gegangen seien, aber gleich zurückkommen müssten. Daraufhin griff er nach seinem Handy und wählte Goncas Nummer. Aber sie ging nicht dran. Wütend legte er auf, aber nur, um die Nummer gleich noch einmal zu wählen. So ging das eine ganze Weile, bis sie endlich den Anruf entgegennahm. Ihr Vater schrie durchs Telefon, was ihr einfiele und wieso sie noch nicht zu Hause sei. Schneidend befahl er ihr, sofort zu kommen. Ich saß völlig erstarrt auf dem Sofa und hörte, wie meine Schwester stichelte: »Diese kleine Schlampe, wie kann sie es wagen, alleine in die Stadt zu gehen?« Ich hörte ihr sprachlos zu. Nach den Regeln meines neuen, selbst bestimmten Lebens ohne Mustafa war es mir ganz natürlich erschienen, die beiden Mädchen ausgehen zu lassen. Aber hier herrschten die Gesetze des türkischen Clans, und ich spürte, dass sie immer noch stärker waren als ich.
Eine Viertelstunde später waren sie da. Mein Schwager war bereits im Schlafanzug und hatte sich im Flur aufgebaut. Drohend stand er da, und als die Mädchen hereinkamen, brach ein Donnerwetter los. Birgül ging hinter ihrer Cousine in Deckung, und Gonca ließ sich regungslos von ihrem Vater abkanzeln. Es gäbe schließlich Regeln in diesem Haus, die sie zu befolgen hätte und »du übrigens auch, Nichte«, schrie er Birgül an. Dannstürmte er aus der Küche und verschwand im Obergeschoss. Meine Schwester hatte sich die ganze Zeit zurückgehalten. Jetzt stand sie da und lächelte zufrieden. Es war klar, wer die treibende Kraft gewesen war.
Gonca und Birgül verschwanden nach einer Weile resigniert im Zimmer. Ich saß – ebenfalls ziemlich verloren – in der Küche. Ich hatte mir einen Tee gemacht und dachte über die Szene nach. Auch ich stand unter Schock. Bei mir waren viele Bilder aus der Vergangenheit wieder aufgetaucht. Wie oft war ich von Mustafa angebrüllt und verprügelt worden? Warum müssen die türkischen Männer immer gleich schreien und zuschlagen? Aber ich ärgerte mich auch. Was war das für ein Verhalten? Gonca war doch kein Kind mehr. Schließlich war sie neunzehn Jahre alt und volljährig.
Nachdem ich mich beruhigt hatte, ging ich zu den Mädchen. Die beiden saßen immer noch völlig aufgelöst auf einem der Betten. Der kleine Akin lag schon zusammengerollt im Bett und schlief. Gonca und Birgül flüsterten. Ich setzte mich dazu und fragte, warum sie denn so spät gekommen seien. Nicht, um noch eins draufzusetzen, ich wollte es einfach wissen. Da sagte Birgül: »Mensch, Mama, du weißt doch, wie selten wir uns sehen. Das war doch alles völlig harmlos. Erst sind wir ein bisschen durch die Geschäfte gebummelt, und dann haben wir noch eine Cola getrunken. Da braucht man doch nicht so ein Theater zu machen.« Dann schaute sie mich treuherzig an und lächelte zaghaft. Sie hatte ja Recht. Warum sollte ich ihr böse sein?
Gonca war immer noch völlig verstört. Sie schmiegte sich an mich und sagte: »Weißt du, teyze , ich komme hier überhaupt nicht raus. Die sind immer weg, an den Wochenenden gehen sie zu Freunden oder Verwandten. Oder an Silvester! Da waren sie auf einem türkischen Neujahrsfest, aber glaubst du, sie hätten mich mitgenommen? Die gehen einfach ständig aus, und ich bleibe hier und hüte die Kinder.« Wenn die Eltern mit den größeren Söhnen in die Türkei flogen, war klar, dass Gonca bei den jüngeren Geschwistern zu Hause blieb. Meine Nichte fand dasnicht gerecht. »Ich bin doch die Junge, ich müsste doch ausgehen, und die Alten bleiben zu Hause, oder?«
»Früher, als ich noch zur Schule ging, war es noch schlimmer«, erzählte sie, »weil ich da ja noch mehr Zeit hatte. Da habe ich oft bis abends um zehn geschuftet. Erst danach hatte ich Zeit, meine Hausaufgaben zu machen. Und trotzdem habe ich die Schule gut geschafft.« So gesehen war ihr Job in der Fabrik gar nicht so schlecht. Jetzt war sie wenigstens acht Stunden weg von zu Hause, weg von ihrer Mutter, die sie wie eine Sklavin hielt.
Von Hochzeiten und Fehlern
Als wir wieder zu Hause waren, wurde ich krank. Eine Woche lang schleppte ich mich in die Arbeit, kapitulierte dann aber doch vor dem hartnäckigen Grippevirus. Ich hatte Fieber und konnte kaum sprechen. Ich ging zum Arzt, der verschrieb mir starke Medikamente und verordnete strikte Bettruhe. Obwohl mir die Kinder halfen, war es schwierig. Abgesehen von zwei Nachbarinnen,
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